Lehrer:innenbildung in einer digitalen Welt


Entschließung des 150. HRK-Senats am 22.3.2022

Digitalisierung verändert Lehr- und Lernprozesse nachhaltig. Insofern und auch vor dem Hintergrund der während der Covid-19-Pandemie gemachten Erfahrungen ist es erforderlich, diese Veränderungen aufzugreifen und die Lehrer:innenbildung[1] systematisch auf die daraus resultierenden Anforderungen auszurichten. Bund und Länder haben in der Förderrunde der „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ mit dem Themenschwerpunkt „Digitalisierung in der Lehrerbildung“ bereits erste Akzente gesetzt und Forschungs- und Entwicklungsprojekte ermöglicht. Auch die Stiftung Innovation in der Hochschullehre hat das Thema „Hochschullehre durch Digitalisierung stärken” in einer ersten Förderrunde aufgegriffen. Die Empfehlungen der HRK zielen darauf ab, hieran zeitnah anzuschließen.

Lernen ist und bleibt ein sozialer Prozess. Dabei sind digitale Werkzeuge und Medien als Erweiterungen und Ergänzungen des Präsenzunterrichts in der Schule zu verstehen. Für die Lehrer:innenbildung bedeutet dies, Freiräume und Gelegenheiten zu schaffen, in denen Studierende ebenso wie Lehrende an den Hochschulen  Lernformate, Medien und Methoden kreativ erproben und hinsichtlich ihres didaktisch sinnvollen Einsatzes im Unterricht empirisch begründen und theoretisch reflektieren können. Des Weiteren spielt die Fort- und Weiterbildung für Lehrkräfte in den Schulen eine zentrale Rolle, denn nur so können die jetzt im Dienst stehenden Lehrerinnen und Lehrer für die neuen Herausforderungen gewappnet werden. Die bestehenden Paradigmen für die Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften werden dieser Problemlage in keiner Weise gerecht, weder aus inhaltlicher Sicht noch hinsichtlich der organisatorischen und finanziellen Rahmenbedingungen.

Den mit der Lehrer:innenbildung befassten Lehrenden an den Hochschulen wird in diesem Kontext eine besondere Verantwortung zuteil: Sie haben die Aufgabe, die Kompetenzentwicklung und die Reflexionsfähigkeit der Studierenden gezielt zu fördern. Die Hochschulen sollten daher zu Entwicklungsräumen werden, in denen sowohl die Lehrenden als auch die Lernenden die erforderlichen Kompetenzen erwerben können. Hierbei stehen die Lehramtsstudierenden in ihrer Doppelrolle als Lernende und zugleich als künftige Lehrkräfte vor besonderen Herausforderungen. Damit sie diese Doppelrolle erfolgreich einnehmen können, muss die Weiterentwicklung der Curricula im Lehramtsstudium zu einer gemeinsamen Aufgabe der Fachwissenschaften, Fachdidaktiken und Bildungswissenschaften werden.

Bislang erfolgt die Unterstützung für die Digitalisierung in der Lehre und speziell in der Lehrer:innenbildung lediglich durch zeitlich befristete Förderlinien des Bundes oder der Länder. Ohne eine substanzielle darüber hinausgehende und nachhaltig angelegte finanzielle Grundförderung sind die ehrgeizigen Ziele einer angemessenen Lehrer:innenbildung für eine „digitalisierte Gesellschaft“ jedoch nicht erreichbar. Es sind neue Professionen mit integrierten fachlichen und technischen Kompetenzprofilen zu entwickeln, wissenschaftliches Personal zu fördern, Professuren in diesem Bereich ebenso wie die notwendigen personellen und sachlichen Infrastrukturen einzurichten und langfristig zu sichern. Nicht zuletzt bedarf es dauerhafter und verlässlicher Rahmenbedingungen als Grundlage dafür, dass die Hochschulen die Aufgaben erfüllen können, die aus der sich ständig wandelnden Digitalisierung erwachsen.


1. Bereitstellung und Pflege der erforderlichen Infrastruktur und rechtssicherer Rahmenbedingungen
Die Bereitstellung der technischen Infrastruktur sowie zugehöriger Supportstrukturen ist eine Grundvoraussetzung. Infrastruktur und Rahmenbedingungen müssen dabei gleichermaßen auf die Herausforderungen der einzelnen Fachdisziplinen und auf solche interdisziplinärer Natur eingehen sowie mit Blick auf überregionale (auch bundesweite und internationale) Konnektivität konzipiert bzw. adaptiert werden. Fachliche, interdisziplinäre Zuständigkeiten innerhalb der Hochschulen sollten übergreifend und klar im Rahmen der spezifischen Bedingungen und Anforderungen der Lehrer:innenbildung geregelt sein und einen intensiven Informations- und Erfahrungsaustausch ermöglichen. Dies gilt gleichermaßen für Kooperationen mit anderen Institutionen der Lehrer:innenbildung. Schließlich müssen die rechtlichen Rahmenbedingungen für den Einsatz von Technologien in Lehr-Lern-Szenarien und die Verwendung der dabei anfallenden Daten geklärt sein. Zur Unterstützung werden niedrigschwellige Beratungs- und Supportangebote, sowohl zentral als auch dezentral, benötigt.

2. Entwicklung und Auswahl geeigneter Werkzeuge zum Lehren und Lernen in einer digitalen Welt
Lehrer:innenbildung muss anstreben, dass Lehrkräfte die Möglichkeiten, die durch den pandemiebedingten Digitalisierungsschub entstanden sind, in ihrem schulischen Handeln umfassend aufgreifen und aktiv gestalten. Dafür spielen die reflektiv-kritischen, digitalen, medienpädagogischen sowie fachspezifischen Kompetenzen Lehrender eine wichtige Rolle. Die Lehrer:innenbildung muss Innovationen gegenüber aufgeschlossen sein und die unterschiedlichen Facetten, Chancen und Risiken, Möglichkeiten und Grenzen digitaler Lehr-, Lern- und Prüfungsformate vermitteln, damit diese in Praxisphasen und im Vorbereitungsdienst unterrichtlich erprobt und theoriegeleitet reflektiert werden können. Hierfür bietet sich die Kooperation mit Partnerschulen an, die die Studierenden während der Praktika im Rahmen des Masterstudiums betreuen.
Um Experimentierfreude zu fördern und zugleich den reflektierten Umgang mit neuen Technologien zu stärken, sind zudem projektorientierte sowie experimentelle Lehr-Lern-Settings im Studium von zentraler Bedeutung. Umgangs- und Kommunikationsformen, Wertvorstellungen und deren Entwicklung in der digitalisierten Welt bilden einen unverzichtbaren Bestandteil des Lehr-Lernprozesses. Gefordert ist die Urteilsfähigkeit, in den Medien oder im Internet zwischen sachgerechten Informationen und nach Beeinflussung trachtenden Meinungen bzw. kommerziellen Angeboten zu unterscheiden.

3. Curriculare Verankerung von Themen und Kompetenzen

    3.1.Informatische Kompetenzen
Schülerinnen und Schüler müssen dazu befähigt werden, kompetent, souverän und selbstbestimmt in einer digitalen Welt zu agieren. Dies setzt voraus, dass auch Lehrkräfte dazu in der Lage sind und dass sie die grundlegenden Prinzipien der digitalen Welt kennen sowie algorithmische Strukturen in digitalen Werkzeugen erkennen. Zu einer verantwortungsvollen Verwendung digitaler Lehrformate gehört unabdingbar ein Grundverständnis von Informatiksystemen (z.B. im Einsatzbereich Robotik, Sprachverarbeitung oder Simulation), Umgang mit Daten (Stichworte: Big Data, Datenschutz, Datensouveränität), Lizenzproblematiken (betreffend Lernobjekte, Tools und Apps) und Künstlicher Intelligenz. Die Vermittlung informatischer Kompetenzen sollte lehramtsspezifisch und unter Berücksichtigung entsprechender Schwerpunkte erfolgen.

    3.2 Digitale Transformation in der Schulentwicklung
Die Möglichkeiten der Digitalisierung müssen von allen Lehrkräften genutzt werden, um auf unterschiedliche Lerngeschwindigkeiten, unterschiedliche Vorkenntnisse, unterschiedliche Interessen einzugehen, sowie räumlich und zeitlich versetzt zu arbeiten. Dies heißt auch, dass Lehrer:innenbildung berücksichtigt, wie die digitale Transformation die Institution Schule betrifft und ein Umdenken in der Schulentwicklung erfordert. Lehrer:innenbildende Studiengänge haben die digitale Transformation in all diesen Aspekten zu berücksichtigen.

    3.3 Digitale Transformation in den Fachwissenschaften und in
          den Fachdidaktiken

Mit digitalen Medien und Technologien kann der Erwerb fachlicher Kompetenzen bei den Schüler:innen unterstützt werden. Es ist Aufgabe der Lehrer:innenbildung, digitale Medien und Technologien als selbstverständliches Arbeitsmittel für Studierende und Schüler:innen in die fachlichen und fachdidaktischen Veranstaltungen zu integrieren. Noch stärker als derzeit sollten lehrer:innenbildende Hochschulen digitale Werkzeuge in den Fachdidaktiken erforschen und mit Blick auf das fachspezifische Potenzial weiterentwickeln. Die digitale Transformation fordert insgesamt dazu heraus, die Relevanz fachwissenschaftlicher Inhalte neu zu bestimmen, was auch das Überdenken der Schulcurricula nach sich ziehen muss.

4. Unterstützung der Hochschullehrer:innen und Lehrkräfte durch Fort- und Weiterbildung

Eine breite Beteiligung am „lebenslangen Lernen“ ist notwendig, um ein relevantes didaktisches Gestaltungspotenzial für innovative und kooperative Lern- und Entwicklungsräume entstehen zu lassen. Die Wissenschaftsbasierung dieser Fort- und Weiterbildungsangebote sowie deren enge Verzahnung mit der ersten Phase der Lehrer:innenbildung kann über Kooperationen der Landesinstitute mit Hochschulen oder durch von Hochschulen entwickelte und durchgeführte Angebote sichergestellt werden[2]. Sie sollte daher unbedingt zum Regelfall werden. Hierbei ist die Expertise aller an der Lehrer:innenbildung beteiligten Hochschultypen einzubinden.
Die zurzeit bestehenden Angebote und Paradigmen für die Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften werden der aktuellen Problemlage nicht immer gerecht, weder aus inhaltlicher Sicht noch hinsichtlich der organisatorischen und finanziellen Rahmenbedingungen. Insgesamt ist die Lage der Fort- und Weiterbildung für Lehrkräfte unübersichtlich und bedarf dringend einer grundlegenden Reform unter Einbeziehung wissenschaftlicher Expertise – und das gilt nicht nur vor den besonderen Herausforderungen der digitalen Transformation. So können etwa Microcredentials für einschlägige Module zu digitalen Lehr-Lern-Verhältnissen eine wichtige Unterstützung für den Aufbau digital-kooperativer Lehr- und Lernkompetenzen sein. Um die Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften wissenschaftsbasiert gestalten zu können, sind Änderungen der Lehrverpflichtungsverordnungen der Hochschulen sowie der die Lehrkräfte an den Schulen betreffenden Regelungen erforderlich.

5. Forschung und Transfer
Aufgrund der konstitutiven Verbindung von Lehre und Forschung an den Hochschulen sollten digitale Forschungsansätze und -methoden integrativer fachlicher Bestandteil in den lehramtsbezogenen Studiengängen und Gegenstand der Lehre sein. Dabei geht es um Forschung zu Lehr-Lern-Prozessen in digitalen Settings aber auch um Forschung zu Digitalität als Inhaltskomponente von Lernprozessen.
Ebenso sollte die Digitalisierung in ihren Auswirkungen auf das Gesellschafts-, Arbeits-, und Bildungssystem verstärkt Gegenstand der Forschung sein. Dazu bedarf es einer eigenständigen forschungsmethodischen Ausbildung aller Lehramtsstudierenden, welche als empirisch begründet und bezogen auf die Erkenntnisse der Lehr-Lernforschung neben die Didaktik und deren theoretische Begründung tritt. Insbesondere in interdisziplinären Forschungsvorhaben und im Zusammenwirken von Fachwissenschaften, Fachdidaktiken und Bildungswissenschaften lässt sich die Komplexität ihrer Auswirkungen umfassend analysieren. Konkret muss z. B. untersucht werden, wie sich Lernen mit digitalen Medien auf die individuellen und sozialen Lernprozesse und Bildungsergebnisse auswirkt, wie es pädagogisch und fachdidaktisch wirkungsbegründet gestaltet werden kann, und wie der anschließende Transfer der Forschungsergebnisse in die Lehre sowie in die Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften sowie die Qualifizierung von Quer- und Seiteneinsteiger:innen gestaltet werden kann. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen in der Pandemie geht es darüber hinaus um ein verbessertes Wirkungsverständnis an der Schnittstelle zwischen Schule und außerschulischem Lernen im Kontext von Familie und Gesellschaft und ebenso um ein klareres Herausarbeiten der Effekte sowie der damit verbundenen Chancen und Risiken der permanenten Digitalisierung aller Lebensbereiche.

6. Potenziale der Digitalisierung in der Lehrer:innenbildung umfassend nutzen
Die Lehrer:innenbildung hat neben der Digitalisierung eine Reihe anderer Herausforderungen zu bewältigen. Dazu zählen unter anderem
-    Maßnahmen für eine inklusive Schule: Die Chancen, die die Digitalisierung bei der individualisierten Betreuung von Schüler:innen mit besonderem Förderbedarf bieten würde, werden bislang nur rudimentär genutzt.
-    Überwindung sozio-ökonomischer Unterschiede: Teilhabe über digitalisierte Formate muss durch eine verbesserte digitale Infrastruktur unterstützt werden.
-    Internationalisierung: Die Digitalisierung eröffnet neue Chancen, internationalisation@home und Blended Mobility zu stärken, die einen Auslandsaufenthalt zwar nicht ersetzen können, aber dennoch Einblicke in andere Lehr-Lern-Kulturen ermöglichen.

Die Lehrer:innenbildung befindet sich im ständigen Wandel, da sie notwendigerweise die Veränderungen in den Lebensbedingungen und in der Gesellschaft in die wissenschaftliche Vorbereitung zukünftiger Lehrkräfte einbeziehen muss. Hierfür muss sie aufgeschlossen und wandlungsfähig sein und bleiben. Die Digitalisierung bietet die Werkzeuge an, wobei deren Einsatz beim Umgang mit neuen Herausforderungen fortgesetzt wissenschaftsbasiert zu reflektieren ist.

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[1] Es sind vier betroffene Personengruppen zu unterscheiden: Hochschullehrer:innen, Lehramtsstudierende, Lehrkräfte (an Schulen), Schüler:innen.
[2] vgl. hierzu: Entschließung des Senats der HRK am 25. Juni 2020:
Seiten- und Quereinstieg ins Lehramt: Akademische Standards sind nicht verhandelbar!, www.hrk.de/positionen/beschluss/detail/quer-und-seiteneinstieg-ins-lehramt/