Gemeinsame Empfehlung
von Hochschulrektorenkonferenz und Kultusministerkonferenz
(Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 12.03.2015/
Beschluss der Hochschulrektorenkonferenz vom 18.03.2015)
Inklusion: Teilhabe und Bildungserfolg für alle ermöglichen
Die Entwicklung eines inklusiven Bildungsangebotes in der allgemeinen Schule verfolgt die Ziele, den bestmöglichen Bildungserfolg für alle Schülerinnen und Schüler zu ermöglichen, die soziale Zugehörigkeit und Teilhabe zu fördern und jedwede Diskriminierung zu vermeiden. Diversität in einem umfassenden Sinne ist Realität und Aufgabe jeder Schule. Dabei gilt es, die verschiedenen Dimensionen von Diversität zu berücksichtigen. Das schließt sowohl Behinderungen im Sinne der Behindertenrechtskonvention ein, als auch besondere Ausgangsbedingungen z. B. Sprache, soziale Lebensbedingungen, kulturelle und religiöse Orientierungen, Geschlecht sowie besondere Begabungen und Talente.
Die Gestaltung von Schulen, in denen Vielfalt als Normalität und Stärke anerkannt und wertgeschätzt wird, ist eine Aufgabe der Lehrerinnen und Lehrer aller Schulen. Lehrkräfte benötigen professionelle Kompetenzen, um besondere Begabungen oder etwaige Benachteiligungen, Beeinträchtigungen und andere Barrieren von und für Schülerinnen und Schüler zu erkennen und entsprechende pädagogische Präventions- und Unterstützungsmaßnahmen zu ergreifen. Die Kooperation und Kommunikation der Lehrkräfte der verschiedenen Lehrämter, aber auch die darüber hinausgehende multiprofessionelle Kooperation erlangen dabei zunehmend Bedeutung. Daher sollen schon die lehramtsbezogenen Studiengänge für alle Schularten und Schulstufen in Kooperation die angehenden Lehrerinnen und Lehrer auf einen konstruktiven und professionellen Umgang mit Diversität vorbereiten.
Vielfalt braucht Vielfalt: Wege zur Lehrerbildung für inklusive Schulen
Die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) hat mit der Empfehlung „Eine Hochschule für Alle“ vom 21. April 2009 und den Empfehlungen zur Lehrerbildung vom 14. Mai 2013 erste Impulse für den Umgang mit Vielfalt in den eigenen Institutionen und deren Lehrangeboten gesetzt. Die Kultusministerkonferenz (KMK) hat mit der Empfehlung „Inklusive Bildung von Kindern und Jugendlichen in Schulen“ aus dem Jahr 2011, den überarbeiteten „Standards für die Lehrerbildung: Bildungswissenschaften“ in der Fassung vom 12. Juni 2014 sowie den unter der Inklusionsperspektive überarbeiteten „Ländergemeinsamen inhaltlichen Anforderungen für die Fachwissenschaften und Fachdidaktiken in der Lehrerbildung“ den notwendigen Rahmen geschaffen, der jetzt in den Curricula der Lehrerbildung Gestalt und Wirksamkeit gewinnen soll.
Zur Unterstützung und Förderung dieser Aufgabe haben KMK und HRK am 1. Dezember 2014 eine gemeinsame Fachtagung unter Beteiligung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Bildungswissenschaften, der Sonderpädagogik und verschiedener Fachdidaktiken und Fachwissenschaften sowie Vertreterinnen und Vertretern der Schul- und Wissenschaftsministerien durchgeführt. Zentrale Ergebnisse dieser Erörterungen sind in diese Empfehlung eingegangen.
Beide Organisationen setzen sich dafür ein, die Inklusion von Menschen mit unterschiedlichen Lern- und Leistungsvoraussetzungen und Bildungsbiografien in gemeinsamen Lernprozessen und Lernorten nicht zuallererst als weitere Belastung, sondern als Gewinn erfahrbar zu machen. Das schließt besondere Zuwendung für Lernende ein, für die Marginalisierung, Exklusion und ‚Underachievement’ eine Gefahr darstellen. Die Empfehlung soll den Hochschulen, Ministerien und Behörden bei dem Thema Inklusion in der Lehrerbildung als Orientierung dienen und allen Akteuren Impulse liefern, sich daran zu beteiligen.
Dabei sind die Ausgangslagen sowohl in den Ländern wie auch in den Hochschulen und Lehrerbildungsinstitutionen hinsichtlich der Schul- und Ausbildungsstrukturen durchaus heterogen. Der Föderalismus und unterschiedliche Hochschul- bzw. Studiengangprofile ermöglichen es, auf verschiedenen Wegen das gemeinsame Ziel zu erreichen, Basiskompetenzen zur Gestaltung von inklusivem Unterricht und inklusiver Schule zu erwerben. Unverzichtbar bleibt, dass die inhaltliche Vergleichbarkeit und damit die gegenseitige Anerkennung und die Mobilität von Lehramtsabsolventinnen und -absolventen gewährleistet werden.
Professioneller Umgang mit Inklusion: Lehrerbildung in kollegialer Kooperation
Die Anforderungen an Lehrkräfte haben sich durch den Anspruch, den Facetten der Vielfalt in Bildung und Erziehung besser gerecht zu werden, nachhaltig verändert. Der professionelle Umgang mit Inklusion kennzeichnet künftig eine allgemeine Anforderung an die Lehrerbildung. Die Lehrerbildung für eine „Schule der Vielfalt“ ist deshalb eine Querschnittsaufgabe, der sich die Bildungswissenschaften, Fachdidaktiken und Fachwissenschaften im lehramtsbezogenen Studium für alle Lehramtstypen gemeinsam und aufeinander abgestimmt widmen müssen. Der Vorbereitungsdienst als zweite Phase der Lehrerbildung soll entsprechende darauf aufbauende didaktisch-methodische Konzepte entwickeln, die von der Heterogenität der Lerngruppen als selbstverständlichem Regelfall ausgehen. In besonderer Weise kommt es zugleich auf die Fort- und Weiterbildung des bereits gegenwärtig im Bildungswesen arbeitenden Personals an. Die für den Lehrerberuf benötigten Kompetenzen schließen neben Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten auch Einstellungen und Haltungen gegenüber Vielfalt ein, die durch professionsbezogene, erfahrungsbasierte und theoriegestützte Reflexion entwickelt und durch Praxiserfahrung erlebbar werden müssen.
Alle Lehrkräfte sollten so aus-, fort- und weitergebildet werden, dass sie anschlussfähige allgemeinpädagogische und sonderpädagogische Basiskompetenzen für den professionellen Umgang mit Vielfalt in der Schule, vor allem im Bereich der pädagogischen Diagnostik und der speziellen Förder- und Unterstützungsangebote entwickeln können. Diese Kompetenzen erfahren im Studium der Fachdidaktiken und Fachwissenschaften eine Konkretisierung und Vertiefung, und werden in Praxisabschnitten analytisch und handlungsorientiert erprobt und reflektiert. Zudem spielen die Fachdidaktiken für die Entwicklung und Implementierung von Konzepten differenzierenden Unterrichts eine zentrale Rolle. Eine vertiefende, über die genannten Basiskompetenzen hinausgehende, sonderpädagogische Expertise von Lehrkräften ist weiterhin unverzichtbar.
Professionelle Kooperation verschiedener Lehrämter bzw. Berufsgruppen wird zu einer Gelingensbedingung inklusiver Schulen. Empfehlenswert sind daher multiprofessionelle Teams, um den komplexen beruflichen Aufgaben beim Umgang mit Vielfalt sowie der Zusammenarbeit und Netzwerkbildung innerhalb der eigenen Schulgemeinschaft und darüber hinaus gerecht zu werden. Eine professionelle Haltung zu den Grenzen der eigenen Kompetenz, die Kenntnis der Potentiale anderer Professionen und die Bereitschaft zur kollegialen Kooperation sind wesentliche Elemente des Lehrerberufs, die zusätzlich an Bedeutung gewinnen und auch von den an Hochschulen Lehrenden vorbildhaft berücksichtigt werden sollten.
Damit die mit der Lehrerbildung für einen inklusiven Unterricht verbundenen Erwartungen von den Hochschulen erfüllt werden können, sollten auch die Hochschul- und Fakultäts- bzw. Fachbereichsleitungen dem Thema die nötige Priorität einräumen. Erforderlich ist ein inneruniversitärer Diskurs von Bildungswissenschaften, Sonderpädagogik, Fachdidaktiken und Fachwissenschaften zur Weiterentwicklung der lehramtsbezogenen Curricula, der Veränderungsprozesse unterstützt und die positiven Ansätze in Forschung und Lehre durch Hochschulsteuerungsinstrumente stärkt und absichert. Die Vernetzung von Hochschulen, Studienseminaren, Schulen, Fortbildungsinstituten und außerschulischen Kooperationspartnern in diesem Feld trägt zum Gelingen der Weiterentwicklung bei.
Inklusion als Leitbild in der Lehrerbildung: Empfehlungen für die Umsetzung
Es ist von den jeweils konkreten Ausgangsbedingungen in den Hochschulen abhängig, inwieweit in den lehrerbildenden Studiengängen additive (Basisqualifizierungs-Module) oder integrative Konzepte (Integration in bildungswissenschaftliche, fachdidaktische und fachwissenschaftliche Module und Lehrveranstaltungen) für die Implementierung inklusionsspezifischer Themen in die Curricula geeigneter erscheinen. Empfohlen wird, additive durch integrierte Konzepte zu ergänzen und eine inklusive Gesamtkonzeption umzusetzen. Von besonderer Bedeutung ist die curriculare Abstimmung und Vernetzung zwischen den beteiligten Bildungswissenschaften, Fachdidaktiken, Fachwissenschaften und schulpraktischen Studien. Eine curriculare Vernetzung ermöglicht es den Studierenden, Spezialwissen in den Bildungswissenschaften und Fachwissenschaften zu erwerben, in der jeweiligen Fachdidaktik auf spezifische Fragestellungen zu übertragen und in der Praxis anzuwenden und zu reflektieren. So kann das Thema Inklusion und Umgang mit Diversität z. B. als inhaltlicher Schwerpunkt in bestehenden Lehrveranstaltungen thematisiert werden oder als Reflexions- und Beobachtungschwerpunkt in unterrichts- und schulnahen Lehrveranstaltungen bzw. als Schwerpunktbereich in Praktikumsphasen verankert werden.
Schulpraktische Studien bieten je nach Platzierung im Studium, Länge, Begleitung und Studieneinbindung unterschiedliche Lernmöglichkeiten, Vielfalt im schulischen Alltag zu erleben und zu reflektieren. Während in orientierenden Praktika der Studieneingangsphase eine erste reflexive Begegnung mit den Anforderungen der Vielfalt an die Berufsrolle von Lehrkräften erfolgt, können in Langzeitpraktika die komplexen Anforderungen der Schulpraxis wahrgenommen, analysiert und systematisch mit den bildungswissenschaftlichen, sonderpädagogischen und fachdidaktischen Studienangeboten verknüpft werden. Hier kann der phasenübergreifende Einsatz von Reflexionsinstrumenten, wie z. B. Portfolios, die reflexive Auseinandersetzung mit dem professionellen Selbstkonzept angehender Lehrkräfte hinsichtlich der eigenen Haltung und Einstellung zum Thema schulischer Inklusion fördern.
Die veränderten Inhalte der Lehrerausbildung erfordern umso mehr, sowohl andere Formen der Lehre und des Lernens als auch eine neue Form des Ermittelns und Beurteilens von Kompetenzen zu etablieren. Empfohlen wird, in allen lehrerbildenden Hochschulen Prüfungsformate zu entwickeln, um kompetenzorientierte und kooperative Prüfungen während und zum Abschluss der Lehrerbildung zu ermöglichen.
Damit diese Kompetenzorientierung an den Hochschulen umgesetzt werden kann, bedarf es neben ausreichender Zeit und Ressourcen zur Gestaltung von Lehre und Prüfungen auch der Weiterbildung und des Erfahrungsaustauschs unter den Lehrenden. Für die kompetente Vermittlung inklusionsspezifischer Themen sind eine Stärkung der Forschung zum Umgang mit Heterogenität und Inklusion - z. B. in fachbezogener Diagnostik und inklusiver Fachdidaktik - sowie eine entsprechende Qualifikation des wissenschaftlichen Nachwuchses notwendig, um eine ausreichende Anzahl von Hochschullehrerinnen und Hochschullehrern zu erreichen. Hierzu sind bundesweite Forschungsprogramme erforderlich.
Um den Bedarf an materiellen und personellen Ressourcen in Forschung und Lehre bemessen und sichern zu können, sind hochschulweite und ggf. auch hochschulübergreifende Konzepte erforderlich. Die sich durch die „Qualitätsoffensive Lehrerbildung“ dazu ergebenden Möglichkeiten sollten genutzt werden.
Im Vorbereitungsdienst müssen künftige Lehrerinnen und Lehrer in die Lage versetzt werden, diagnostische Verfahren anzuwenden, im Unterricht eine Vielfalt von Lernzugängen in Form von vielfältigen Aufgaben und Themenstellungen auf unterschiedlichen Handlungsniveaus anzubieten und den eigenen Unterricht kontinuierlich evaluieren zu können.
HRK und KMK weisen darauf hin, dass sich die Lehrkräfte an den Schulen vielfach schon den aktuell relevanten Anforderungen der Inklusion stellen und dass die Ausweitung des Angebots zur Weiterqualifizierung des vorhandenen Personals in den Blick genommen werden sollte. Den im Beruf befindlichen Lehrkräften und auch den Schulleitungen sollten verstärkt hochwertige Fortbildungen zur Verfügung gestellt werden, die sie zur Gestaltung der Inklusion in der Schule befähigen. Für solche Maßnahmen in der Berufseingangsphase und in der Lehrerfort- und -weiterbildung sollten auch die Potentiale der Hochschulen genutzt werden. Die Einrichtung von weiterqualifizierenden Studienangeboten sollte geprüft werden.
HRK und KMK sind sich bewusst, dass die Umsetzung dieser Empfehlungen Veränderungen in den Hochschulen und besonders in den lehrerbildenden Studiengängen mit sich bringen wird. Sie empfehlen, die erforderlichen Veränderungen im Dialog zwischen Schulen, Lehrerbildungsinstitutionen, Hochschulen und Ministerien zu gestalten, um die vorhandenen Handlungsspielräume voll ausschöpfen zu können.
An Qualitätsentwicklung orientierte Evaluationsverfahren können die Weiterentwicklung der Studiengänge unterstützen. Auch (Re-)Akkreditierungsverfahren ermöglichen es den Hochschulen zu zeigen, dass angehende Lehrkräfte in ihren Studiengängen die notwendigen Kompetenzen für eine inklusive Schule erwerben.
HRK und KMK fordern alle an der Lehrerbildung Beteiligten auf, ihrer Verantwortung für die notwendige institutionelle, konzeptionelle und inhaltliche Gestaltung der Lehrerbildung für eine Schule der Vielfalt nachzukommen. Sie vereinbaren, in geeigneten Zeitabständen den Stand der Umsetzung zu erfassen und zu reflektieren.