Hochschule als Unternehmerschmiede - eine zukunftsweisende Aufgabe


Erklärung der Präsidenten von Hochschulrektorenkonferenz und Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände vom 7.10.1998



Für eine "Kultur der Selbständigkeit"


In den Hochschulen in Deutschland studiert derzeit mehr als ein Drittel eines Altersjahrgangs. Die überwiegende Zahl der Studierenden strebt in Unkenntnis des Arbeitsmarkts nach Studienabschluß noch immer eine Beschäftigung vornehmlich im Staatsdienst oder in größeren Unternehmen als abhängig Beschäftigte an. Auch die meisten Lehrpläne sind noch daraufhin orientiert. Dies entspricht dem verbreiteten Sicherheits- und Versorgungsdenken unserer Gesellschaft. Die Zahlen der im Staatsdienst und in Großunternehmen Beschäftigten gehen jedoch bereits seit einigen Jahren zurück.


In der Wirtschaft vollzieht sich ein Wandel. Schon jetzt hat die Verlagerung von Unternehmensaktivitäten in eine selbständige Form vielfache Möglichkeiten für eine Betätigung als selbständiger Unternehmer geschaffen.


Die künftige Arbeitsgesellschaft wird zudem eine wissens- und wissenschaftsbasierte Gesellschaft sein. Sie wird weniger als in der Vergangenheit nur Vollzeitbeschäftigte und nur abhängig Beschäftigte kennen. In Zukunft wird zunehmend Eigeninitiative gefragt sein: Teilzeit-Tätigkeiten und berufliche Selbständigkeit werden einen sehr viel größeren Anteil an der Arbeitswelt haben. Deshalb sollten sich Hochschulabsolventinnen und -absolventen auf eine zeitweilige oder auch dauerhafte selbständige berufliche Existenz einstellen.


Klima für Selbständigkeit und unternehmerische Initiative


Die zunehmend positive gesellschaftliche Einstellung gegenüber selbständigem Unternehmertum muß durch gemeinsame Anstrengungen von Politik, Wissenschaft und Wirtschaft stabilisiert und weiter verstärkt werden. Wirtschaftliche Wagnisbereitschaft, Eigeninitiative und Eigenverantwortung der Einzelnen müssen durch entsprechende Rahmenbedingungen weiter gefördert werden. Deutschland braucht ein Klima, in dem Hochschulen insgesamt als "Gründerschmieden" betrachtet werden, so wie Unternehmensgründungen aus industrieorientierten Instituten seit jeher als selbstverständlich angesehen wurden.


Hier vollzieht sich bereits ein Wandel: 1997 wurden rund 650 Unternehmen aus Hochschulen gegründet gegenüber nur 393 neugegründeten technologieorientierten Unternehmen für den gesamten Zeitraum von Anfang 1990 bis Ende 1996. Bis zum Jahre 2001 wird eine Zunahme auf mindestens circa 850 Neugründungen jährlich angenommen.


Nur der Grundsatz "Turn a problem into an opportunity" führt zu einer Kultur der Selbständigkeit auf allen Ebenen. Die verbreitete Neigung, Existenzgründer, deren Unternehmen auf dem Markt nicht erfolgreich waren, als "Versager" abzustempeln, ist eine erhebliche mentale Barriere für unternehmerische Selbständigkeit und verhindert schon auf dieser Ebene zahlreiche Unternehmensgründungen.


Schule und Hochschule: geistiges Fundament für eine neue Kultur der Selbständigkeit


Bereits in der Schule, insbesondere aber in den Hochschulen muß den jungen Menschen nahegebracht werden, daß berufliche Selbständigkeit eine in jeder Hinsicht attraktive Lebensperspektive darstellt. Die Vermittlung grundlegenden Wissens über wirtschaftliche Zusammenhänge und die Bedeutung von Unternehmen und selbständigem Unternehmertums für die soziale Marktwirtschaft ist eine wichtige Aufgabe unseres Bildungssystems, die nur in enger Kooperation mit der beruflichen Praxis realisiert werden kann.


Die bereits bestehende Zusammenarbeit zwischen Schule und Praxis muß durch eine moderne wirtschaftlich-technische Grundbildung in allen Schularten und -stufen ergänzt werden. Auch in den Hochschulen gehören Grundzüge selbständigen (unternehmerischen) Handelns zu den Teilen der Lehrangebote, die Studierenden aller Studienrichtungen zumindest im Wahlbereich angeboten werden sollten.


Existenzgründung als Aufgabe der Hochschulen


Hochschulen sind Stätten von Forschung und Entwicklung und deshalb wichtige Innovationsträger. Sie enthalten insgesamt die Wissenschaften in ihrer ganzen Breite. In ihren Labors und Seminaren entstehen aus dem Zusammenwirken von Forschung und Lehre in der Wechselwirkung von Lehrenden und Lernenden immer wieder innovative Ideen, die in Produkte und Dienstleistungen umgesetzt werden können. Studierende sowie Absolventinnen und Absolventen deutscher Hochschulen sind jedoch häufig nicht hinreichend sensibilisiert, um die Chance der Selbständigkeit als berufliche Perspektive wahrzunehmen.


Auch ist die Lehre in den Hochschulen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, noch nicht auf die Vermittlung von Selbständigkeit eingestellt. Hier sind Änderungen erforderlich, die in manchen Hochschulen bereits gezielt in Gang gesetzt werden. Notwendig ist eine Öffnung der Curricula für die Vermittlung der für eine Existenzgründung erforderlichen Grundkenntnisse wirtschaftlichen Handelns und fachübergreifender und arbeitsteiliger Zusammenarbeit (Teamarbeit).


Gleichzeitig müssen Professorinnen und Professoren die Förderung eigenständigen Handelns als ein wichtiges Element der Lehre und der Ausbildung der Studierenden und des wissenschaftlichen Nachwuchses erkennen und praktizieren. Sie müssen Studierende und Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler zur Selbständigkeit ermutigen, um das vorhandene Potential für Selbständigkeit zu identifizieren und gezielt zu fördern.


Zusammenwirken von Wissenschaft und Praxis


Hochschulen müssen Unternehmertum und die Vorbereitung der Studierenden und Absolventen auf berufliche Selbständigkeit zu Aufgabenschwerpunkten in Forschung und Lehre machen. Wie Career-Services Absolventinnen und Absolventen den Übergang in das Beschäftigungssystem erleichtern sollen, so stellt die Vorbereitung auf eine Existenzgründung ein wichtiges Betätigungsfeld der Hochschulen in Wahrnehmung ihrer Verantwortung für ihre Studierenden und ihrer Verpflichtung zur Dienstleistung im Rahmen ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit für die Gesellschaft dar. Die Hochschulen haben mehr denn je die Verpflichtung, die Studentinnen und Studenten auch mental auf die Möglichkeit der beruflichen Selbständigkeit vorzubereiten und sie dafür zu trainieren.


Wirtschaft und Wissenschaft müssen in diesem Prozeß eng zusammenwirken, da bei Hochschullehrerinnen und -lehrern nur selten eigene Praxiserfahrung mit Unternehmensgründung und Unternehmensführung vorhanden ist. Im Zusammenspiel von Wissenschaft, vor allem der Betriebswirtschaftslehre, und Praxis aus Unternehmen, Wagniskapitalgesellschaften, Patenteinrichtungen etc. sollten praxisbezogene und gründungsrelevante Kenntnisse für potentielle Unternehmer vermittelt werden.


Hierfür besteht umfangreiches Know-how bei Verbänden, Industrie- und Handelskammern, Rechtsanwälten, Steuerberatern oder Patentexperten. Existenzgründertraining sollte auch durch junge Unternehmer angeboten werden, die schon geschäftliche Erfolge vorweisen können. Durch die Vermittlung von Erfahrungen aus der Praxis können den Studierenden die Schwierigkeiten, aber auch die Chancen einer Selbständigkeit nähergebracht werden.


Bereits heute gibt es an den Hochschulen unterschiedliche Wahlangebote zu unternehmensrelevanten Themenbereichen wie Rechtsformen von Unternehmen, Innovationsförderung, Technologietransfer oder Patentwesen. Ringvorlesungen unter Beteiligung der Praxis zum Stichwort Unternehmensgründung haben sich ebenfalls bewährt.


Für einen besonders interessierten Personenkreis aus Studierenden und Nachwuchswissenschaftlern kann ein spezielles Seminarangebot zum gesamten Themenspektrum Unternehmensgründung vorgehalten werden (Businessplanerstellung, Rechts- und Organisationsformen, Rechnungswesen, Marktanalyse etc.).


Die Einführung von Innovations-/Entrepreneur- oder Existenzgründungslehrstühlen ist eine wichtige Maßnahme. Dabei ist zu berücksichtigen, daß Professuren für Existenzgründungen aus nachvollziehbaren Gründungen nicht mit Lebenszeitbeamten besetzt werden sollten. Vielmehr ist vorrangig an befristete oder Teilzeitprofessuren zu denken, die unter den damit gegebenen Rahmenbedingungen attraktiv gestaltet werden müssen.


Für die Vermittlung notwendiger Erfahrungen und Kenntnisse aus "erster Hand", d.h. von erfahrenen Praktikern selbst, müssen also theoretische und praxisorientierte Ausbildung in der Hochschule eng ineinandergreifen. Zeitweilig oder längerfristig in Hochschulen lehrende Praktiker aus der Wirtschaft können eine wichtige Vorbildfunktion für Studierende im Hinblick auf die Ausprägung unternehmerischer Persönlichkeiten ausüben.


Die Grundgedanken beruflicher Selbständigkeit sollten Professorinnen und Professoren durch zeitlich befristete Aufenthalte in der Wirtschaft nähergebracht werden. Deshalb sollten auch Mittel und Wege gefunden werden, insbesondere durch flexible Handhabung oder Flexibilisierung des Dienst- und Personalrechts, Existenzgründungen durch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Hochschulen zu erleichtern und Erfahrungen eigenen Unternehmertums zu ermöglichen.


Existenzgründer-Netzwerke


Chancen und Risiken von Existenzgründungen aus Hochschulen sind unabhängig von Unterschieden im regionalen wirtschaftlichen Umfeld vergleichbar. Deshalb liegt es nahe, durch Information und Erfahrungsaustausch Chancen zu verbessern und Risiken zu verringern. Dies könnte durch ein überregionales Netzwerk von Existenzgründungszentren erreicht werden. Ein solches Netzwerk sollte Synergieeffekte in folgenden Bereichen erzielen können:

  • Information, Schulung und Training in grundlegenden wirtschaftlichen Fragen
  • Ermittlung und Vorstellung von Geschäftsideen

  • Ansprache, Analyse und Motivation potentieller Firmengründer

  • Beurteilung und Mithilfe bei der Konkretisierung möglicher Gründungskonzepte (business plan)

  • Unterstützung durch branchenspezifisches Know-how (Wettbewerbssituation, Vermarktungskonzepte, Marktspielregeln)

  • Vermittlung von Wagniskapital für technologieorientierte Unternehmensgründungen.

  • Hochschule als Unternehmerschmiede

Empfehlungen

  1. Hochschulen und Wirtschaft sollten auf regionaler Ebene Netzwerke zur Förderung von Existenzgründungen bilden. Ihrer Aufgabe, auch als Unternehmerschmiede zu wirken, können Universitäten und Fachhochschulen am besten gerecht werden, wenn sie Teil eine funktionierenden regionalen Netzwerkes zwischen Wissenschaft und unternehmerischer Praxis sind. Im Dialog mit allen Anbietern von Fördermöglichkeiten zur unternehmerischen Selbständigkeit in einer Region können die unterschiedlichen Beratungs-, Unterstützungs- und Finanzierungsangebote gebündelt werden. Ein Netzwerk zwischen Hochschule(n) und Wirtschaft dient der Förderung unternehmerischer Selbständigkeit von der Initiierung bis zur Betreuung junger Unternehmensgründungen.

  2. Die Förderung unternehmerischer Selbständigkeit durch die Hochschulen benötigt engagierte Mitwirkung durch Außenstehende. Diese werden weniger durch formale Autorität in den Hochschulen, sondern vielmehr aufgrund ihrer Vorbildung, ihrer Erfahrung und ihres unternehmerischen Engagements wirken.

  3. Um die unternehmerische Selbständigkeit von Studierenden und Hochschulabsolventinnen und -absolventen zu fördern, gibt es keine für alle Einrichtungen oder Regionen in gleicher Weise angemessene Organisationsstruktur. Die notwendigen Änderungen in den jeweiligen Hochschulstandorten und -regionen müssen sich an den lokalen und regionalen Bedingungen (und auch Zwängen) orientieren. Praxisbeispiele können allerdings in diesem Zusammenhang Anregungen für geeignete Maßnahmen geben.

  4. Möglichst viele in der Lehre der Hochschule tätigen Personen sollten am Prozeß der Identifikation, Motivation und Förderung von Studierenden, die eine selbständige Tätigkeit ins Auge fassen, beteiligt werden. Um die nicht hinreichenden Erfahrungen beim hauptberuflichen wissenschaftlichen Personal zu ergänzen, sollten sich Unternehmen der Region und ihre Verbände in besonderer Weise mit Zeit, Personal und Geld für die Vermittlung unternehmerischer Kompetenz in den Hochschulen zur Verfügung stellen.

    Unternehmen und Verbände nehmen damit ihre Verantwortung für Gesellschaft, Region und insbesondere die junge Generation im Zeitalter zunehmenden internationalen Wettbewerbs und zunehmender Globalisierung wahr. Es liegt auch im mittel- und langfristigen Interesse der Unternehmen selbst, ein solches Engagement einzugehen, das nicht auf kurzfristige Gewinnerzielung angelegt ist.

  5. Hochschulen, Unternehmen, Wirtschaftsverbände oder Netzwerke als Kompetenzzentren für Existenzgründung und Entrepreneurship sollten die als Unternehmer erfolgreichen Hochschulabsolventinnen und -absolventen in die Förderung und Unterstützung von Existenzgründungen einbeziehen. Erfahrungen und Vorbild der Alumni sind für potentielle Existenzgründer an den Hochschulen besonders wertvoll. Sie können maßgeblich für die Persönlichkeitsentwicklung zum Unternehmer beitragen. Innerhalb eines Existenzgründungsnetzwerks sind Absolventen, die selbst Unternehmensgründer sind, für prozeßbegleitendes Coaching bei Gründungsmaßnahmen prädestiniert.

  6. Mit Blick auf die unerläßliche Profil- und Schwerpunktbildung muß jede Hochschule für sich entscheiden, inwieweit sie sich dem Thema Unternehmensgründung widmet. Dies kann nicht durch Druck von außen geschehen. Ein entsprechendes Engagement der Hochschule auf diesem Sektor sollte durch zusätzliche finanzielle Mittel gefördert werden.

  7. Das Angebot der Lehre im Hinblick auf unternehmerische Selbständigkeit muß sowohl inhaltlich als auch vom fachlichem Anspruch her zielgruppenorientiert sein. Fachübergreifende Zusammenarbeit und Interdisziplinarität müssen im Studium einen höheren Stellenwert erhalten. Die Einrichtung eines Existenzgründungslehrstuhls ist keinesfalls zwingende Voraussetzung für eine Vorbereitung auf und die Förderung beruflicher Selbständigkeit. Vielmehr kann "Unternehmer-Training" die ganze Breite von rein praxisorientierten Kursen bis hin zu theorieorientierten Studienrichtungen einnehmen.

  8. Die vielleicht schwierigste Aufgabe stellt die Persönlichkeitsentwicklung von Studierenden hin zu Unternehmern dar. Persönlichkeitsbezogene Kompetenz, Sozialkompetenz und methodische Kompetenz müssen ebenso wie kommunikative Befähigungen zum Gegenstand der Hochschulbildung werden, auch wenn diese sich kaum in ein spezialisiertes Fachstudium integrieren lassen. Deshalb müssen Studiengänge Freiraum für eigene Schwerpunktbildung der Studierenden eröffnen.

    Den Hochschulen muß seitens des Staates die Möglichkeit eröffnet werden, Angebote zur Persönlichkeitsbildung anzubieten, die nicht im Korsett der Kapazitätsverordnung und der Curricularnormwerte verankert sind. Ohne Freiräume für die Hochschulen läßt sich die Förderung von Persönlichkeiten, die im Wettbewerb des Marktes erfolgreich sein können, nicht verwirklichen. Entscheidend ist die Schaffung einer gründungsförderlichen Atmosphäre an den Hochschulen. Wer eigenverantwortliche Unternehmerpersönlichkeiten im Bildungssystem fördern will, muß das Bildungssystem in die Freiheit entlassen.

Hochschulen sind Orte, in denen neues Wissen generiert, gesammelt und weitergegeben wird. Wenn sie ihre Aufgaben im Bewußtsein und in Wahrnehmung ihrer gesellschaftlichen Verantwortung erfüllen (können), werden sie auch in der Förderung unternehmerischer Ideen und Persönlichkeiten eine wichtige Rolle spielen. Gelingt dies, wird Selbständigkeit und Unternehmertum ein selbstverständliches Ergebnis akademischer Ausbildung in Kooperation mit der Wirtschaft sein. Dann wird auch in Deutschland eine neue Unternehmerkultur entstehen.