Die kulturelle Dimension der Hochschulen


Entschließung der 37. Mitgliederversammlung der HRK vom 14.11.2023

Inhaltsverzeichnis

I. Hochschulen sind kulturelle Institutionen
II. Besondere Potenziale der kulturellen Dimension von Hochschulen  
III. Entwicklungsempfehlungen zur kulturellen Dimension der Hochschulen

I. Hochschulen sind kulturelle Institutionen
Hochschulen sind zentrale kulturelle Akteurinnen. Sie erforschen Wissen, Bedeutungen, Erfahrungen und Wahrnehmungsweisen diverser kultureller Gefüge sowie die Vielfalt von Kulturbegriffen selbst. Damit tragen sie zur Bewahrung des kulturellen Erbes bei. Sie vermitteln Gestaltungskompetenzen; sie schaffen und untersuchen Performierungen und Materialisierungen von Kultur.

Hochschulen als kulturelle Institutionen sind gleichzeitig Orte der Bildung, die die Basis für kulturelle Entwicklungen und Transformationen schaffen: Sie vermitteln Wissen und künstlerische Fertigkeiten als Grundlage von Werken, Produkten, Ideen. Sie ermöglichen künstlerische Prozesse des Wahrnehmens, Erfassens, Erkennens, in denen Wissen und Können hervorgebracht und transformiert werden. Sie öffnen Räume für multiperspektivische und inter- und transkulturelle Diskurse, die dazu befähigen, Wissen in Bedeutungszusammenhänge einzuordnen und damit eigene Haltungen und Weltbezüge zu entwickeln und zu verändern. Sie generieren Wissen zwischen ihren Mitgliedern und der Gesellschaft ko-kreativ. Sie ermöglichen den Erwerb von Kompetenzen, mit denen kulturelle und gesellschaftliche Verhältnisse kritisch befragt und umgestaltet werden können. Auch in kultureller Hinsicht erweisen sich Hochschulen damit als die „Zukunftswerkstätten der Gesellschaft“[1].

Alle Hochschultypen leisten Beiträge zur kulturellen Dimension, sei es künstlerisch durch das in einer ästhetischen Dimension kreativ Geschaffene, sei es kulturell im Austausch über Wissen und Bedeutungen mit anderen Hochschulen und Dritten, sei es philosophisch-reflektierend in der Verständigung über Kunst, Gestaltung und Kultur in historischen und sozialen Kontexten. Die Hochschulen tragen somit zu Kreation und Innovation bei und legen auf diese Weise den Grund für die Weitergabe von Kultur und eine lebenslange vertiefte Beschäftigung damit. Diesem Anspruch und der damit verbundenen Verantwortung gemäß sind die deutschen Hochschulen in ihrer breiten Auffächerung in vielfältiger Weise Akteurinnen in der kulturellen Dimension. Diese Dimension ist von ebenso grundlegender Bedeutung wie beispielsweise Lehre, Forschung oder Transfer und benötigt in gleicher Weise Aufmerksamkeit, Entfaltungsraum sowie Steuerung und Finanzierung.

II. Besondere Potenziale der kulturellen Dimension von Hochschulen
Mit dem Auftakt ihrer Verfassung: „That since wars begin in the minds of men, it is in the minds of men that the defences of peace must be constructed“,[2] formuliert die UNESCO die Wirksamkeit von Kultur, die als verinnerlichtes Gewebe aus Konzepten und Bedeutungen für die Entfaltung von Praktiken maßgeblich ist, als Leitsatz ihrer institutionellen Arbeit.

Mit unterschiedlichen Forschungskonzepten verschreiben sich die Hochschulen gemeinsam der teils systematischen, teils kreativ-absichtslosen Suche nach Erkenntnis über die Welt. Diese Erkenntnis drückt sich in unterschiedlichen Wissensbeständen und Wissensformen aus. Forschung kann sich auf die Generierung expliziten Wissens und Faktenwissens beziehen. Ebenso bezieht sich Forschung auf die Exploration impliziten oder Erfahrungswissens sowie narrativer, bildlicher oder performativer Wissensformen. Dazu gehören auch die Öffnung neuer Perspektiven auf vorhandene Wissensbestände und kritische Befragungen ihrer Entstehungsbedingungen. Diese Wissensbestände und Wissensformen machen einen wesentlichen Bestandteil der Konstruktionen in den Köpfen der Menschen aus, die soziale Interaktionen bestimmen.

Drängende gesellschaftliche Herausforderungen wie die Herstellung sozialer Kohäsion, die Sicherung von Frieden, die Bekämpfung von Armut und der ökologischen Krise bedürfen nicht nur sozialer und technologischer Innovationen,[3] sondern vor allem auch kulturellen Wissens und kultureller Praktiken,[4] die Menschen Bedeutungen vermitteln und durch Vorstellung alternativer Welten neue Perspektiven offerieren, die verantwortliches Handeln ermöglichen und neue soziale Gefüge und technologische Entwicklungen befördern können. Die kulturelle Dimension ist damit auch von zentraler Bedeutung für Bildung für nachhaltige Entwicklung.[5] 

Hochschulen als kulturelle Institutionen sind Orte, die das Erlernen, Einüben und die Entwicklung neuer künstlerischer und kultureller Praktiken ermöglichen, mit denen gesellschaftliche Transformationen angestoßen werden können. Dies können Praktiken sein, die den Transfer innovativen Wissens und Angebote innovativer Weltbezüge in die Breite der Gesellschaft vollziehen. Es ist nicht zuletzt dieser an Hochschulen gelebte hochwirksame Aspekt des Kulturellen, der den besten Schutz vor Reglementierung und Unterdrückung wissenschaftlicher und künstlerischer Freiheit und von Bildungsprozessen, wie sie in autoritären Staaten stattfinden, bietet. Den bildenden und darstellenden Künsten und dem Design kommt hier eine herausragende Rolle zu, da sie mit ihren über logozentrische Kommunikationen weit hinausgehenden Möglichkeiten – etwa durch künstlerische Forschung, aisthetische Bildung oder multisensorielle Affizierung – Menschen tief berühren, Resonanzen erzeugen, Muster aufbrechen, Unsichtbares sichtbar und Unerhörtes und Übertöntes hörbar machen und damit Wahrnehmungs- und Deutungsmuster nachhaltig transformieren können.

Hochschulen als kulturelle Institutionen nehmen zudem eine bedeutende Rolle bei der Bewahrung kultureller Objekte ein, so etwa bei der Vorhaltung und Pflege von naturwissenschaftlichen oder kulturhistorischen Sammlungen, durch die Sicherung der schriftlichen kulturellen und wissenschaftlichen Überlieferung in den mit ihnen verbundenen Bibliotheken, die gleichzeitig wichtige Orte der kulturellen Bildung sind, oder bei der Identifikation und Erforschung von Weltkulturerbestätten. Sie sind hierbei wichtige Partnerinnen eines breiten Spektrums kultureller Institutionen.

Den Hochschulen stehen zahlreiche Handlungsformen zur Verfügung, mit denen sie in der kulturellen Dimension agieren können. Über das kulturbezogene Handeln der Hochschulen in Forschung, Bildung und Innovation hinaus sind dabei besonders Formate in den Blick zu nehmen, die kulturellen Austausch mit der und in die Gesellschaft ermöglichen: Für den Transfer kulturellen Wissens und kultureller Praktiken können die Hochschulen neben etablierten Publikationsformen auf alle Möglichkeiten der Wissenschaftskommunikation zugreifen, auch etwa durch wissenschafts- und kulturhistorische Ausstellungen von Objekten und Artefakten, textlichem und bildlichem Quellenmaterial in Universitätsmuseen, -archiven und -bibliotheken. 

Die gegenwärtigen existenziellen Krisen, die Gesellschaften in aller Welt bedrohen, bedürfen jedoch auch intervenierender Formate, die etwa durch ein hohes Affektionspotenzial eine größere transformative Wirksamkeit versprechen. Hochschulen, nicht allein die Kunst- und Musikhochschulen, zu deren Kerntätigkeit dies gehört, sind bereits jetzt Orte für eine Vielzahl von Kulturveranstaltungen wie Ausstellungen, Performances, Konzert-, Opern-, Theater-, Tanz- und Filmaufführungen, Lesungen, Poetry-Slams. Solche Formate können nicht nur als künstlerisch autonome, sondern auch als wissenskommunikative und wissensproduzierende Interventionen im politischen Raum und kritische Kommentare zu gesellschaftlichen Diskursen zum Einsatz kommen.

III. Entwicklungsempfehlungen zur kulturellen Dimension der Hochschulen
Hochschulen in ihrer kulturellen Dimension erfahren hochschulpolitisch noch nicht die erforderliche Aufmerksamkeit. Ihre nachhaltige Etablierung bedarf hochschulinterner, aber auch unterstützender externer Prozesse. 

Hochschulintern kommt es darauf an, die kulturelle Dimension als Querschnittsaufgabe in Lehre, Forschung, Internationalisierung, Transfer und Betrieb zu identifizieren, aktiv auszugestalten und sichtbar zu machen. Dies eröffnet auch neue Möglichkeiten und Chancen für die Entwicklung von Governance und Hochschulstrategien, die jede Hochschule ihrem Profil und ihren Bedürfnissen entsprechend ausformulieren und zu einer vierten Mission ausbauen kann.

Besondere Bedeutung kommt dabei der Weiterentwicklung interdisziplinärer Forschung und Lehre und hochschultypübergreifender Kooperationen und Kooperationen mit außerhochschulischen Akteuren wie Konzerthäusern, Theatern, Museen, den Öffentlichen Bibliotheken oder aus dem Kultur- und Kreativsektor zu, da sich die Produktivität von Kultur gerade in den Grenzregionen zwischen unterschiedlichen kulturellen Komplexen – seien es Wissens-, Fach- oder Institutionskulturen – durch angestoßene Selbstreflexionen und Aushandlungsprozesse zeigt.

Was die Etablierung von externer Unterstützung angeht, sind Hochschulpolitik und Förderinstitutionen, insbesondere die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), dazu aufgerufen, die kulturelle Dimension von Hochschulen durch bestehende Förderformate, gegebenenfalls auch durch Anpassung von Gremienstrukturen und -besetzungen, zu berücksichtigen, neue Förderformate zu entwickeln – etwa im Bereich von artistic research – und diese Dimension in Bildungs- und Forschungsstrategien explizit zu berücksichtigen, um das Potenzial der Hochschulen in der kulturellen Dimension zu heben und für die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft fruchtbar zu machen.

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[1] Vgl. HRK-Empfehlung „Für eine Kultur der Nachhaltigkeit“ vom 06.11.2018, https://www.hrk.de/fileadmin/redaktion/hrk/02-Dokumente/02-01-Beschluesse/HRK_MV_Empfehlung_Nachhaltigkeit_06112018.pdf (14.11.2023). 
[2] UNESCO, https://www.unesco.org/en/legal-affairs/constitution (14.11.2023).
[3] So die Zukunftsstrategie Forschung und Innovation der Bundesregierung vom Februar 2023, https://www.bmbf.de/SharedDocs/Publikationen/de/bmbf/1/730650_Zukunftsstrategie_Forschung_und_Innovation.pdf?__blob=publicationFile&v=3 (14.11.2023). 
[4] HRK-Stellungnahme vom 11.11.2022 zum Entwurf einer Zukunftsstrategie Forschung und Innovation, S. 3 (im PDF-Konvolut aller Stellungnahmen https://www.bmbf.de/bmbf/de/forschung/zukunftsstrategie/publikationen/stellungnahmen-textentwurf-zukunftsstrategie-fi.pdf?__blob=publicationFile&v=1 (14.11.2023).
[5] Vgl. Ziel 4.7 der Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen, https://sdgs.un.org/goals (14.11.2023).