Nachteilsausgleich in einer Hochschule für Alle


Empfehlung der 41. Mitgliederversammlung der HRK am 4.11.2025 in Osnabrück

I. Ausgangslage und Zielsetzung

Individuelle Nachteilsausgleiche sind das zentrale Instrument, um für gleichberechtigte Teilhabe im Studium und in Prüfungen zu sorgen. Bei Vorliegen der rechtlichen Voraussetzungen haben Studierende mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen einen Anspruch auf die Gewährung von Nachteilsausgleichen. Mit dieser Empfehlung werden Anregungen für die Gestaltung nachvollziehbarer und rechtssicherer Prozesse bei der Beantragung und Bewilligung von Nachteilsausgleichen gemacht.

II. Hintergrund
2021 gaben im Rahmen der bundesweiten Studierendenbefragung des DZHW knapp 16 % der Studierenden an, dass sich ihr Studium durch eine gesundheitliche Beeinträchtigung erschwert habe, deutlich mehr als 2016. Die mit Abstand größte Gruppe sind Studierende mit psychischen Erkrankungen und Problemen, gefolgt von Studierenden mit einer chronisch-somatischen Erkrankung.[1] Anteilig deutlich kleiner sind die Gruppen der sinnes- und körperlich beeinträchtigten, der neurodivergenten und mehrfach-beeinträchtigten Studierenden. 

Die größten Studienschwierigkeiten entstehen für sie beeinträchtigungsübergreifend noch immer im Bereich Studienorganisation, Lehre und Lernen und Prüfungen, weil deren Bedingungen für viele nicht ohne Weiteres mit den eigenen beeinträchtigungsbezogenen Belangen vereinbar sind.[2]  

Die Hochschulen sind gefordert, in jedem Einzelfall eine angemessene Entscheidung zu treffen, die Unter- und Überkompensationen vermeidet. Um die Chancengleichheit der Studierenden zu wahren, aber auch die Handhabbarkeit in den Hochschulen zu verbessern, wird die Definition verbindlicher, transparenter, rechtssicherer und schlanker Verfahren immer wichtiger. 

III. Erläuterungen und Empfehlungen

1. Behinderungsbegriff

Das „Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ (UN-BRK) hat ein neues Verständnis von Behinderung geprägt. Behinderung stellt keine persönliche Eigenschaft eines Menschen dar (medizinisches Modell), sondern entsteht durch die Wechselwirkungen zwischen individuellen Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren. Der Behinderungsbegriff der Gleichstellungsgesetze der Länder und des Bundes (§ 3 BGG) lehnt sich an das Verständnis der UN-BRK an und umfasst alle Formen gesundheitlicher Beeinträchtigungen, insbesondere Beeinträchtigungen des Sehens, Hörens oder Sprechens, motorische Beeinträchtigungen sowie somatische und psychische Krankheiten bzw. Störungen einschließlich Teilleistungs- und Autismus-Spektrum-Störungen. Auch länger andauernde bzw. chronische Krankheiten führen daher zu einer Behinderung, wenn dadurch in Wechselwirkung mit Barrieren Einschränkungen der gesellschaftlichen Teilhabe entstehen.

2. Verantwortung der Hochschulen
Der neue Behinderungsbegriff bedeutet für die Beteiligten im Prozess der Nachteilsausgleichsgestaltung auf Hochschulseite anzuerkennen, dass Vorgaben der Studien- und Prüfungsordnung, die nicht die Qualifikationsziele selbst betreffen, so z. B. Festlegung von Prüfungssettings, zeitliche Rahmenbedingungen, aber auch das Festhalten an Lehrroutinen sich als umwelt- oder einstellungsbedingte Barrieren erweisen können, die zu Behinderungen im Studium führen und einen Anspruch auf Nachteilsausgleich begründen können. Hochschulen nehmen diese Verantwortung ernst und werden weiter darauf hinwirken, Barrieren in Lehre, Prüfungen und bei der Studienorganisation abzubauen. Wenn Lehre und Prüfungen von Anfang an barrierefrei gestaltet werden, können individuelle und mitunter ressourcenaufwändige Nachteilsausgleiche vermieden werden. Grundsätzlich sind Hochschulen verpflichtet, Lehre und Prüfungen so zu organisieren, dass Teilhabe für alle gleichermaßen möglich ist. Rechtsgrundlagen für Nachteilsausgleiche in Prüfungen sind die Landeshochschulgesetze und die entsprechenden (Rahmen-)Prüfungsordnungen. Der Anspruch auf Nachteilsausgleich leitet sich zudem unmittelbar aus Art. 3 Abs. 1 und Abs. 3 Satz 2 des Grundgesetzes (GG) ab. Unmittelbare Wirkung kommt auch dem Diskriminierungsverbot der UN-BRK (Artikel 5 Abs.1 und 2, Art. 24 Abs. 1 und 5) zu. Die Grenze des Nachteilsausgleichs findet sich im Grundsatz der Chancengleichheit aller Prüflinge, der verfassungsrechtlich in Art. 3 Abs. 1 i. V. m. Art. 12 Abs. 1 GG (Berufsfreiheit) abgesichert ist. Die Berücksichtigung konstitutioneller oder in der Person des Prüflings verwurzelter Anlagen und Besonderheiten – soweit sich diese wiederum auf die durch die Prüfung festzustellende Leistung beziehen – sind Gegenstand einer ausdifferenzierten Rechtsprechung[3].

3. Prozess „Nachteilsausgleich“
In vielen Hochschulen ist ein Nebeneinander von formellen Verfahren und „informellen Wegen“ zu beobachten. Insbesondere für Prüfungen sollten klare und verbindliche Zuständigkeiten und Prozesse geschaffen werden, um die Chancengleichheit aller Studierenden zu gewährleisten und Prozessrisiken zu vermeiden. Das Verfahren sollte so einfach und transparent wie möglich gestaltet werden. 

Die Entscheidung über den Nachteilsausgleich trifft das jeweils zuständige Prüfungsorgan nach Maßgabe der Prüfungsordnung. Prüfungsorgane und Lehrende benötigen für die Durchführung von Nachteilsausgleichen zeitliche Ressourcen. Die Bereitstellung von Beratungs-, Fortbildungs- und Informationsangeboten (z. B. Leitfäden, Handreichungen, Antragsformulare) sowie von geeigneten Räumen und Aufsichtspersonen unterstützt den Weg zu einer inklusiven Hochschule für alle.

4. Beteiligung der Beauftragten/Beratungsstellen für Studierende mit Behinderungen
Bereits in der HRK-Empfehlung von 2009[4] wurde den zuständigen Prüfungsorganen empfohlen, die Expertise der Beauftragten für Studierende mit Behinderungen in die Prozesse zum Nachteilsausgleich einzubeziehen. Gerade in Bezug auf die zunehmend komplexen Bedarfslagen einer heterogenen Gruppe von Studierenden wächst die Bedeutung der fachkompetenten Expert:innen auch für die Beratung und Unterstützung von Prüfungsausschüssen und anderen Prüfungsorganen. Mit den Hochschulbeauftragten für Studierende mit Behinderungen und chronischen Krankheiten und / oder den entsprechenden auf die Belange von Studierenden mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen spezialisierten Beratungsstellen in den Hochschulen stehen an fast allen staatlichen Hochschulen entsprechend kompetente (und gesetzlich verankerte) Ansprechpartner:innen zur Verfügung. Ihre Expertise sollte regelhaft oder im Bedarfsfall konsequent genutzt werden. Damit die Beauftragten bzw. Beratungsstellen diese wichtige Aufgabe erfüllen können, benötigen sie auch weiterhin die Unterstützung ihrer Rektorate und Präsidien.

5. Antragsverfahren und Nachweise
Verbindliche und nachvollziehbare Regelungen zur Beantragung von Nachteilsausgleichen und zur Gestaltung der Nachweise können Konflikte vermeiden. Mögliche Maßnahmen können sein:

Antragstellung in Textform:
Prüfungsordnungen sollten eine Antragstellung in Textform vorsehen, damit Missverständnisse und Konflikte minimiert werden. Hochschulen können die Antragstellung durch Bereitstellung eines verlässlichen Beratungsangebots, umfassender Informationen und eines Antragsformulars unterstützen. Bei Antragsfristen ist zwischen Ausschluss- und Organisationsfristen zu unterscheiden. Auf Ausschlussfristen sollte nach Möglichkeit verzichtet werden. Organisationsfristen sind ggf. erforderlich, um eine rechtzeitige Umsetzung von Nachteilsausgleichen gewährleisten zu können (z. B. Organisation von Räumen und Aufsichtspersonal). Studierende sollten über etwaige Form- und Fristvorschriften in verständlicher und leicht zugänglicher Form informiert werden. In dem Wissen, dass Studierende und die mit der Umsetzung betrauten Personen möglichst frühzeitig Klarheit über die Bewilligung von Nachteilsausgleichen benötigen, wirken die Hochschulen auf eine zügige Antragsbearbeitung durch die Prüfungsorgane hin.

Nachweispflichten alltagstauglich gestalten:

Die Prüfungsordnungen verlangen häufig verbindlich ärztliche Nachweise, z. B. fachärztliche Atteste. Die Erfahrungen aus der Praxis zeigen jedoch, dass es auch andere rechtssichere Nachweise gibt, die als „Beweismittel“ denkbar sind (z. B. Feststellungsbescheid zu Merkzeichen im Schwerbehindertenausweis, Entlassungsberichte über Klinikaufenthalte, Befundberichte von Therapeut:innen mit nachweislich besonderer Expertise (insbes. LRS etc.)). Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen sind dafür nicht ausreichend.

Längere Bewilligungszeiträume können in Betracht gezogen werden:
Die zeitliche Reichweite einer Entscheidung des Prüfungsorgans hängt einerseits von der Veränderlichkeit gesundheitlicher Beeinträchtigungen und andererseits davon ab, ob relevante Rahmenbedingungen, z. B. Qualifikations- bzw. Lernziele, Prüfungsformen oder Ähnliches stabil sind oder sich während des Studiums ändern (können). Wenn Studierende mit auf Dauer bestehenden Beeinträchtigungen einen Antrag auf Nachteilsausgleich stellen, können längere Bewilligungszeiträume in Betracht gezogen werden, unter der Maßgabe der Erläuterungen unter III 2. (und Fußnote 3). Der Aufwand für Hochschulen und Studierende sinkt, wenn nicht jedes Semester neue Anträge gestellt und bearbeitet werden müssen.

Diagnostik unterstützen:

Bei einigen Beeinträchtigungen (z. B. LRS) bestehen besondere Schwierigkeiten, eine diagnostizierende Stelle für Erwachsene zu finden. Hier können Hochschulen unterstützen, indem ggf. eigene Einrichtungen oder kooperierende externe Partner eine Diagnostik anbieten.

Ärzt:innen und Psychotherapeut:innen bei ihren Stellungnahmen unterstützen:
Ärztliche Stellungnahmen sind von hoher Bedeutung im Prozess der Nachteilsausgleichsgestaltung. Sie müssen Auskunft über die Beeinträchtigungen und deren individuelle prüfungsrelevante Auswirkungen geben. Da Ärzt:innen oder Psychotherapeut:innen die Systematik der Nachteilsausgleichsprozesse im Hochschulkontext nicht ausreichend genug bekannt ist, erweist es sich als hilfreich, wenn sie schriftlich über das Instrument „Nachteilsausleich“ und die Anforderungen an die Nachweise in diesem Prozess informiert werden, dies erspart Nachfragen und beschleunigt die Verfahren. Ohne für Prüfungskommissionen nachvollziehbare ärztliche Stellungnahmen sind diese nicht in der Lage, über die Gewährung von Nachteilausgleichen zu entscheiden.

6. Rechtsschutz
Zahlreiche Bundesländer haben das Vorverfahren (Widerspruchsverfahren) bei Nachteilsausgleichen abgeschafft. Studierende sind in diesen Bundesländern direkt auf den Klageweg verwiesen, der mit erheblichem Aufwand, Kosten und Verfahrensdauern verbunden ist. Um Studierenden in diesen Bundesländern eine niedrigschwellige Nachprüfung der Verwaltungsentscheidung zu ermöglichen, können Hochschulen ein gebührenfreies internes Gegenvorstellungsverfahren in den Prüfungsordnungen verankern. Das Verfahren sollte zweistufig ausgestaltet sein, so dass die inhaltliche Prüfung durch das zuständige Prüfungsorgan und die rechtliche z. B. durch das Justitiariat erfolgen. In diesem Prozess empfiehlt es sich, die Expertise der Beauftragten bzw. Beratungsstellen für Studierende mit Behinderungen einzubeziehen. Wenn Klageverfahren vermieden werden, entlastet dies auch die Hochschulen.

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[1] Kroher, Martina et al.: Die Studierendenbefragung in Deutschland: 22. Sozialerhebung. Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in Deutschland 2021, Berlin 2023, S. 44 f.
[2] Steinkühler, Julia et al.: Die Studierendenbefragung in Deutsch-land:best3. Studieren mit einer gesundheitlichen Beeinträchtigung, Han-nover 2023, S. 95.
[3] Zu unterschiedlichen Fallkonstellationen Ennuschat, Jörg: „Nachteils-ausgleiche für Studierende mit Behinderungen – Prüfungsrechtliche Bau-steine einer inklusiven Hochschule.“ Rechtsgutachten 2019, www.studierendenwerke.de/fileadmin/api/files/2019-10-14_gutachten-nachteilsausgleiche-_ennuschat-2019.pdf (18.9.2025); Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 9. August 2023 – 19 B 539/23
[4] HRK: Eine Hochschule für Alle, www.hrk.de/positionen/beschluss/detail/eine-hochschule-fuer-alle/ (18.9.2025).