Eine Europäische Bildungs-, Forschungs- und Innovationsgemeinschaft schaffen


Entschließung der HRK-Mitgliederversammlung am 8.11.2016

Entschließung der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) zur Entwicklung der EU-Forschungs- und Innovationsförderung anlässlich der Zwischenevaluierung von Horizont 2020 und anderer EU-Förderprogramme

Inhalt
I. Einleitung und Fazit
II. Europäischen Mehrwert und europäische Kooperation stärken
III. Qualität richtig bewerten und gute Ideen richtig umsetzen
IV. Die Struktur und politische Ausrichtung der europäischen Forschungsförderung weiterentwickeln
V. Schlussfolgerungen: Die Europäische Bildungs-, Forschungs- und Innovationsgemeinschaft als Ziel

I.    Einleitung und Fazit
Aktuell wird die Zukunft der Europäischen Union mit Blick auf die Flüchtlingskrise und den auf lange Sicht anhaltenden Einwanderungsdruck sowie die in Teilen der EU andauernde Wirtschafts- und Strukturkrise sehr grundsätzlich diskutiert. In dieser Situation scheinen vereinfachende Lösungsvorschläge für komplexe globale und europäische Entwicklungen an Attraktivität zu gewinnen und die politischen Fliehkräfte in der EU zu verstärken. Dabei wird deutlich, dass die EU zwar aus einer „Wirtschaftsgemeinschaft“ entstanden ist, dass aber wirtschaftliche Maßnahmen allein – selbst wenn sie erfolgreich sind – den Zusammenhalt in der Europäischen Union nicht gewährleisten können. Auch die geographisch-politischen Grenzen der Union bleiben offen, wie zuletzt das Referendum vom 23. Juni 2016 in Großbritannien gezeigt hat.

Die europäischen Hochschulen verstehen sich in dieser Situation deutlicher denn je als eine Stütze des europäischen Gedankens und des globalen Denkens. Ihre mobilen Studierenden und Wissenschaftler*innen leben die europäische Vereinigung vor. Durch erkenntnisgeleitete, angewandte und innovationsorientierte Forschung und, darauf aufbauend, Lehre und Studium realisieren die Hochschulen das Wissensdreieck (Bildung, Forschung und Innovation) und tradieren und entwickeln gleichzeitig europäische kulturelle Werte und kritisches Denken. Sie gehören damit zu den elementar wichtigen Stützen einer sich dynamisch entwickelnden europäischen Bürger- und Wissensgesellschaft.

Deshalb möchte sich diese Stellungnahme der HRK nicht auf Verbesserungsvorschläge zum Ablauf des bestehenden Forschungsrahmenprogramms beschränken.[1] Es gilt vielmehr, mit Blick auf die beginnende Planung des kommenden 9. Rahmenprogramms (2020 bis 2027) die aktuelle Lage zu berücksichtigen und zu einer offenen Diskussion über eine angemessene Reaktion beizutragen. Dabei lässt sich die HRK von der Grundüberzeugung leiten, dass das Ziel der EU ein gebildetes, kulturell diverses und wirtschaftlich kreatives Europa sein muss, das technologische und gesellschaftliche Innovationen schafft, die der globalen Entwicklung dienen. Um dieses Ziel zu erreichen, bedarf es einer Neuausrichtung des Rahmenprogramms für Forschung und Innovation, die den europäischen Mehrwert neu definiert und die europäische Zusammenarbeit stärkt. Noch wichtiger ist jedoch eine politische Gesamtstrategie der EU zur Stärkung und Förderung der europäischen Hochschulen, die ihre integrierende Rolle im Wissensdreieck von Forschung, Bildung und Innovation und ihre Leistungen für den kulturellen Dialog und Zusammenhalt in Europa anerkennt.

II.    Europäischen Mehrwert und europäische Kooperation stärken

Für alle Mitgliedstaaten der EU gilt weiter die bereits in der Lissabon-Strategie im Jahre 2000 formulierte Aufgabe, ihre nationalen und regionalen Ausgaben für Forschung und Innovation auf 3 Prozent des BSP zu steigern, denn nur eine starke nationale, von den EU-Mitgliedstaaten gestaltete und verantwortete Basis schafft die Voraussetzung, um im europäischen und globalen Wettbewerb zu bestehen. Das europäische Rahmenprogramm für Forschung und Innovation bietet zusätzlich eine Reihe von Instrumenten an, die den europäischen Mitgliedstaaten und Bürgern einen klaren europäischen Mehrwert vermitteln, europäische Vernetzungen schaffen und durch nationale oder multilaterale Aktivitäten nicht zu ersetzen sind. Aus Sicht der deutschen Hochschulen gilt es, gerade diese Instrumente in Zukunft wieder zu stärken.

So trägt das Instrument der europäischen Verbundforschung in Form von kleinen und mittelgroßen Projekten auf allen Ebenen des Innovationszyklus und auf allen Stufen der Technologiereifegrade (Technology Readiness Levels) dazu bei, dass sich europäische Wissenschaftler*innen aus Hochschulen, nicht-hochschulischen Einrichtungen und aus der Wirtschaft schnell, flexibel und hierarchiefrei europäisch vernetzen. Die in Horizont 2020 von der EU-Kommission erreichte Beschleunigung der Bewilligungsprozesse und die Verwaltungsvereinfachung sind ein Grund dafür, dass dieses Instrument Wirtschaft wie Wissenschaft anspricht. Es sollte in Zukunft wieder einen deutlich stärkeren Anteil in der Förderung erhalten.

Der European Research Council (ERC) ist in den letzten Jahren zu einer europäischen Marke für exzellente Grundlagen- und Pionierforschung geworden. ERC-Grants sind der europäische Gradmesser der wissenschaftlichen Weltspitze und fördern spürbar den Standortwettbewerb in Europa. Sie stärken so die Wettbewerbsfähigkeit Europas. Das macht den ERC unersetzlich und begründet die Notwendigkeit, ihn auch in Zukunft mindestens in gleicher Höhe zu fördern.

Die Förderlinie zum Austausch des wissenschaftlichen Nachwuchses, Marie Sklodowska Curie (MSC), ist das Mobilitäts- und Förderprogramm für junge Wissenschaftler*innen in der EU. Insbesondere die International Training Networks (ITN) für Doktorand*innen und Postdocs werden von den deutschen Hochschulen auf Grund der erfolgreichen Verknüpfung der wissenschaftlichen Exzellenz und der europäischen Vernetzung des wissenschaftlichen Nachwuchses sehr geschätzt. Gemeinsam mit dem Pendant zu Horizont 2020 im Bereich der Studien- und Berufsbildungsmobilität Erasmus+ müssen die MSC-Actions stärker gefördert werden, da sie einen unmittelbaren europäischen Mehrwert für alle Mitgliedstaaten schaffen.

Die Mitgliedstaaten sind gehalten, die Ausgaben für die Hochschulen zu erhöhen. Die über die europäische Kohäsionspolitik zur Verfügung gestellten Strukturfondsmittel sollten auch dafür genutzt werden. Pauschalierte und einfach zu handhabende Zusatzförderungen für bereits bewilligte Verbundforschungsprojekte, in die exzellente Nachwuchswissenschaftler*innen aus weniger forschungs- und innovationsintensiven Mitgliedstaaten einbezogen werden, sind denkbar.

Forderungen:
1) Der Kern des Forschungsrahmenprogramms sollte in Zukunft wieder der europäische Mehrwert sein. Die EU-Förderung sollte sich auf Ziele konzentrieren, die national nicht erreichbar sind, und ergänzende Anreize für die Mitgliedstaaten schaffen, ihre nationalen Investitionen in die Forschung und Innovation zu erhöhen. Dafür sind die europäischen Mittel kontinuierlich zu erhöhen.

2) Die europäische Verbundforschung als schnelles und flexibles Instrument der Kooperation von Wissenschaft und Wirtschaft in kleinen und mittelgroßen Projekten sollte gestärkt werden.

III.    Qualität richtig bewerten und gute Ideen richtig umsetzen
Der Erfolg und der gute Ruf der europäischen Rahmenprogramme für Forschung und Innovation beruhen auf der Betonung des Exzellenzprinzips, das die EU-Kommission als zentrales Entscheidungskriterium in Horizont 2020 durchgesetzt hat.

Die deutschen Hochschulen gehören zur Weltspitze beim Erwerb von Drittmitteln aus der Wirtschaft, stehen in enger Kooperation mit der Industrie und sind aktiv beim Austausch mit der und Transfer in die Gesellschaft.[2] Sie verfügen sowohl in der erkenntnisgeleiteten als auch in der angewandten Forschung über exzellente Wissenschaftler*innen. Der wirtschaftliche und gesellschaftliche „Impact“ („Wirkung“ im Sinne einer Verwertbarkeit und Umsetzbarkeit der Forschungsergebnisse) ist nach Auffassung der deutschen Hochschulen das Resultat wissenschaftlicher und technologischer Exzellenz und sollte deshalb keine zusätzliche Bezugsgröße für Förderentscheidungen sein. Es ist zwar Wissenschaftler*innen durchaus nicht fremd, sich bei der Antragstellung Gedanken über den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Impact zu machen, und es ist ihnen in diesen Fällen zuzumuten, dies ernsthaft und stringent darzulegen. Ein im Voraus zu quantifizierender ökonomischer Impact, darstellbar etwa in einem Business-Plan, ist aber als Auswahlkriterium neben der Exzellenz für eine Projektförderung nicht zielführend. Dieser Impact ist nämlich in der Antragsphase nicht glaubwürdig zu überprüfen und widerspricht grundlegend dem zentralen Charakter der Ergebnisoffenheit von Forschung.

In diesem Zusammenhang ist auch festzuhalten, dass die mit dem Impact verbundene Vorstellung von einem stets linearen Entwicklungsprozess beziehungsweise einer planbaren Innovations-Pipeline der Realität in der Forschung und Innovation nicht gerecht wird. Große technologische Durchbrüche und die Mehrzahl der disruptiven Innovationen erscheinen in keiner Impact-Prognose eines Forschungsprojekts, gerade weil mit dem Durchbruch und den Anwendungsmöglichkeiten ex ante nicht zu rechnen ist. Die Generierung neuen Wissens sowohl in Bezug auf die Wissenschaft als auch in Bezug auf Innovation und gesellschaftliche Entwicklungen ist per definitionem nur eingeschränkt planbar. Auch aus diesem Grund ist die Forschung als „Öffentliches Gut“ Gegenstand der staatlich wahrzunehmenden Verantwortung und wird öffentlich gefördert. Sie kann und darf darum auch nicht durch eine Förderung auf Kreditbasis ersetzt werden, die planbare Ergebnisse und Gewinne voraussetzt, um so eine Rückzahlung mit Zins zu ermöglichen. Die deutschen Hochschulen weisen deshalb Ansätze auf EU-Ebene zurück, die öffentliche Projektförderung durch Kreditaufnahmeerleichterung zu ersetzen.

Das Exzellenzprinzip und damit die Qualität muss also das Zentrum der Antragsbeurteilung von Forschungsprojekten bleiben. Denkbar ist zusätzlich die Bereitstellung von Mitteln für ein „Proof of concept“ oder andere Formen der Umsetzung im Anschluss an ein erfolgreiches und direkte Anwendungsperspektiven eröffnendes Forschungsprojekt.

Forderungen:

3) Die durchgehende Anwendung des wissenschaftlichen Exzellenzprinzips als maßgebliches Auswahlkriterium einer Förderung in Horizont 2020 und in zukünftigen europäischen Rahmenprogrammen für Forschung und Innovation ist beizubehalten und zu stärken.

4) Eine Finanzierung von Forschung durch Kreditvergabe oder Kreditvergabeförderung anstelle einer öffentlichen Förderung wird von den deutschen Hochschulen abgelehnt.

5) Horizont 2020 sollte es den Wissenschaftler*innen ermöglichen, sich als geeignet erweisende Forschungsergebnisse mit zusätzlichen Mitteln zu validieren und z.B. Prototypen zu entwickeln.

IV.     Die Struktur und politische Ausrichtung der europäischen Forschungsförderung weiterentwickeln

Strukturell macht Horizont 2020 formal voneinander getrennte Förderangebote an die erkenntnisgeleiteten und grundlagenforschungsorientierten Wissenschafts­organisationen (Säule 1) und an die Wirtschaft, aufgeschlüsselt nach Großunternehmen und KMU (Säule 2). Daneben werden ergebnis- und wirkungsorientierte Lösungsansätze für Gesellschaftliche Herausforderungen politisch gefordert und finanziell gefördert (Säule 3). Ein näherer Blick auf die Struktur macht allerdings eine Reihe von Problemen sichtbar, die die Leistungsfähigkeit von Horizont 2020 vermindert.

Die deutschen Hochschulen sehen ihr potentielles Betätigungsfeld in allen drei Teilen von Horizont 2020, da die Kooperation mit Wirtschaft und Gesellschaft, der Technologietransfer und die Förderung von Ausgründungen und Start-ups zu ihren Aufgaben gehören. Ein großer Teil der erfolgreichen deutschen Start-ups geht auf Hochschulausgründungen zurück. Doch das Innovationspotenzial der Hochschulen kommt bislang nicht ausreichend zum Tragen. Dies beruht zum einen darauf, dass sich die zweite Säule („Industrielle Führung“) bisher zu sehr auf bestehende Industrien konzentriert. Zum anderen ist für disruptive Innovationen, mit denen neue Märkte geschaffen werden können, eine vertrauensvolle Zusammenarbeit auf Augenhöhe von Hochschulen und Unternehmen in Projekten, Netzwerken und Clustern hilfreich; gerade aber in der Säule 2 erleben sich die Hochschulen regelmäßig in der Position des „Juniorpartners“.

Problematisch für die Hochschulen sind auch die Langwierigkeit, Unterschiedlichkeit und mangelnde Transparenz der Verfahren zur Gestaltung der europäischen Förderprogramme (Programmierungsverfahren). Es ist zu hinterfragen, ob das hergebrachte Verfahren in einer sich immer dynamischer entwickelnden Weltwirtschaft mit immer kürzeren Innovationszyklen noch zeitgemäß ist. Zurzeit können das Know-how und die Themenschwerpunkte der Hochschulen jedenfalls nur in geringem Maße in diese Verfahren und damit in die Förderprogramme eingebracht werden. Die HRK schlägt deshalb vor, anknüpfend an die in Horizont 2020 bereits begonnene Praxis, die Ausschreibungsvorgaben für Projektförderungen in Zukunft auf thematische Leitlinien zu begrenzen.[3] Es sollte den Wissenschaftler*innen und Wirtschaftsvertreter*innen überlassen werden, wie sie den inhaltlichen Schwerpunkt setzen und wie sie die möglichen ökonomischen oder gesellschaftlichen Auswirkungen ihrer Vorhaben im Antrag beschreiben. Der Europäische Forschungsrat (ERC) hat gezeigt, dass Gutachter*innen auch bei offenen Ausschreibungen die besten Projekte erkennen und auswählen können. Auch sind die wenigen wirklich themenoffenen Förderlinien in Horizont 2020, wie zum Beispiel Future and Emerging Technologies (FET-Open), am stärksten überzeichnet, weil es für diesen Bereich zu wenige Angebote in Europa gibt.

Die EU-Forschungsförderung sollte sich auf Kooperationen und Verbünde auf Zeit konzentrieren, die sich in einem wettbewerblichen Verfahren durchgesetzt haben. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse und Innovationen brauchen den freien Wettbewerb zwischen unterschiedlichen Ansätzen und Ideen. Zunehmend setzt die EU-Förderpolitik jedoch auf große und langfristige Verbünde, die möglichst alle relevanten Stakeholder unter ein Dach bringen, unter dem sie sich auf eine gemeinsame Forschungsagenda einigen sollen. Es wäre für Europa schädlich, wenn sol¬che Plattformen kartellartig den Status quo sichern, statt neue Ideen zu fördern, die bislang füh¬rende Wissenschaftstheorien oder Geschäftsmodelle gefährden könnten. Es sollte daher geprüft werden, ob beispielsweise das European Institute of Technology (EIT), die FET Flagships, die Joint Technology Initiatives (JTI) und Contractual Public-Private-Partnerships (cPPP) tatsächlich den fruchtba¬ren Wettbewerb befördern und ob Fördermittel für exzellente Akteure außerhalb der institutio¬nalisierten Netzwerke noch zugänglich sind.

Es ist durchaus sinnvoll, dass die Europäische Union mit Horizont 2020 einen beträchtlichen Teil des Budgets in die Bearbeitung der sogenannten großen Gesellschaftlichen Herausforderungen investiert. Zu beobachten ist jedoch, dass sich die in Horizont 2020 formulierten Herausforderungen trotz der eingangs beschriebenen europa- und weltpolitischen Lage zu sehr auf die Weiterentwicklung von technologischen Lösungen konzentrieren. Bisher scheinen die Gesellschaftswissenschaften wie auch die Geisteswissenschaften eher als Hilfswissenschaften angesehen zu werden, die Businessmodelle entwerfen oder die gesellschaftliche Akzeptanz der neuen Technologien fördern sollen. Dies wird ihnen nicht gerecht. Bei der Festlegung der Gesellschaftlichen Herausforderungen sollten deshalb in Zukunft stärker als bisher die Fragestellungen und Analysekompetenz der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften berücksichtigt werden. Besonders im Bereich der Migration wird Europa die Lage nur dann langfristig verbessern können, wenn zukünftig auch die Probleme in den Herkunftsstaaten und -regionen der Migrant*innen bearbeitet werden. Die von der UNO formulierten Ziele nachhaltiger Entwicklung (Sustainable Development Goals 2030) stellen dafür global abgestimmte prioritäre Ziele dar, die über die bisher für Horizont 2020 formulierten Gesellschaftlichen Herausforderungen erkennbar hinausgehen. Trotz der erfreulicherweise von der EU beschlossenen Budgetsteigerung für die Migrationsforschung ab 2017 bleibt die Tatsache bestehen, dass die sogenannte Gesellschaftliche Herausforderung „Europa in einer sich verändernden Welt: integrative, innovative und reflektierende Gesellschaften“ grundsätzlich nicht ausreichend ausgestattet ist, um die existenzbedrohen¬den Herausforderungen Europas zu bearbeiten.

Zusätzlich ist festzuhalten, dass das im Lissaboner Vertrag definierte Ziel des europäischen Rahmenprogramms, den Europäischen Forschungsraum (ERA) zu fördern, bisher nicht zu einem abgestimmten und übersichtlichen Angebot an Fördermaßnahmen der EU geführt hat. Das Förderprogramm ist stattdessen durch verschiedene neue Instrumente über die Jahre kontinuierlich gewachsen. Es gibt zahlreiche Förderlinien, welche sich überschneidende Themen in sehr unterschiedlichen Strukturen und Kooperationsformen bearbeiten. Nur noch wenige Expert*innen sind in der Lage, die Möglichkeiten des Rahmenprogramms in ihrer Vielfalt einzuschätzen, und nur wenige Einrichtungen (in der Regel nicht die Hochschulen) haben die Ressourcen, exzellente Wissenschaftler*innen in die Netzwerke der verschiedenen Plattformen zu integrieren. Daher sollten die vielen verschiedenen Förderformen ergebnisoffen hinterfragt und reduziert werden.

Forderungen:

6) Die Programmierungsverfahren für die EU-Förderung sollten zu Gunsten einer themenoffenen Förderung umgebaut werden.

7) Das kreative und produktive „Querdenken“ von Wissenschaftlern aus Wissenschaft und Unternehmen sollte im Bereich der Industrieforschung und den Gesellschaftlichen Herausforderungen durch die Ausgestaltung der Instrumente stärker befördert werden.

8) Zur Festlegung der Gesellschaftlichen Herausforderungen sind in Zukunft stärker als bisher die Fragestellungen der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften zu berücksichtigen. Für die politischen Herausforderungen, welche die Entwicklung der Europäischen Union gefährden, sollten bedeutend mehr Forschungsmittel bereitgestellt werden.

9) Die Ausrichtung der Gesellschaftlichen Herausforderungen in Horizont 2020 auf die Ziele nachhaltiger Entwicklung der Vereinten Nationen (UN-SDG 2030) sollte möglichst schon im Arbeitsprogramm für 2018-2020 angestrebt werden.

10) Es sollte zukünftig eher weniger und besser aufeinander abgestimmte Instrumente als mehr neue Förderlinien in der EU-Forschungsförderung geben.

V.    Schlussfolgerungen: Die Europäische Bildungs-, Forschungs- und Innovationsgemeinschaft als Ziel
Die europäischen Hochschulen spielen eine zentrale Rolle in der Wissensökonomie der Zukunft, die die EU mit der Strategie der Innovationsunion und dem Rahmenprogramm für Forschung und Innovation schaffen will. Sie bilden die wirtschaftliche, politische und kulturelle Elite der EU, aber  auch die meisten technischen Fachkräfte aus, die die innovationspolitischen Ziele der EU umsetzen sollen. Die Universitäten stellen aber auch eine „Schatzkammer“ der europäischen Kultur dar, die wesentlich zum Zusammenhalt der europäischen Staatengemeinschaft und der Gesellschaften beiträgt – eine Funktion, die in der Innovationsdiskussion oft vergessen wird, aber in der aktuellen Krise wichtiger denn je geworden ist.

De facto sind die Hochschulen die Institutionen, die das Ideal des „Wissensdreiecks“ konkret in vielen hervorragenden Einrichtungen verkörpern. Diese Bedeutung der Hochschulen steht in krassem Missverhältnis zur bisher absenten oder erratischen Politik der EU gegenüber den Hochschulen. Dies ist teilweise Ausdruck der unterschiedlichen Zuständigkeiten für Forschung, Bildung, Innovation und Kultur in den Mitgliedstaaten, zwischen den Mitgliedstaaten und der EU und in der EU selbst. So hat die EU-Kommission gemäß dem Lissaboner Vertrag besondere Befugnisse und Aufträge bei der Gestaltung des Europäischen Forschungsraumes und des Gemeinsamen Marktes. Sie verfügt über ein beträchtliches Budget für die Förderung von Forschung und Innovation. Die Kommission hat jedoch keine Befugnisse im Bereich der Bildung. Vor allem aber hat die Betonung der wirtschaftlichen Fragestellungen von Seiten der Kommission zu einer politischen Lexik beigetragen, die die Erwähnung des Begriffs „universities“ zu vermeiden suchte. Hochschulen werden mit Modernisierungstheorien konfrontiert, die ihre Aufgaben weitestgehend auf Unterstützung von Unternehmens¬gründungen und die Exekution einer umfangreichen Liste von Berufsbefähigungen (skills) reduziert, die wechselnd und je nach politisch-wirtschaftlicher Konjunkturlage in den Fokus rücken.

Jüngst haben allerdings zwei aktuelle Studien, im Auftrag des Kommissionspräsidenten Juncker und im Auftrag der Generaldirektion Forschung, einen anderen Akzent gesetzt und die Bedeutung der Universitäten für die Zukunft Europas hervorgehoben.[4] Insbesondere Robert Madelin hat als ehemaliger Generaldirektor der EU-Kommission in seiner Studie eine Initiative des EU-Kommissionspräsidenten vorgeschlagen, die die Rolle der Hochschulen als „research hubs“ für das gesamte Innovationsökosystem betont. Die notwendige Stärkung und Förderung der Hochschulen durch die EU sei nur politisch möglich, wenn die EU-Kommission hier eine Führungsrolle übernehme und sich dabei als Moderator und „Coach“ für eine Initiative verstehe, die langfristig anzulegen sei und nur im politischem Interessenausgleich im Rahmen des Subsidiaritätsverständnisses der EU vorangebracht werden könne. Dabei könne es laut Madelin nicht um Standardisierung und Regulierung gehen. Die Kommission müsse hier vielmehr die Fähigkeit beweisen, politikfeldübergreifende Prozesse zum Erfolg zu führen, die die unterschiedlichen Entscheidungsebenen, die EU, die Mitgliedstaaten und oft auch die Regionen – d.h. in Deutschland z.B. die Länder – gleichzeitig betreffen und ihre Einbeziehung erfordern.[5]

Die deutschen Hochschulen halten dieses Herangehen für einen fruchtbaren Anstoß zu einer dringend erforderlichen Diskussion in Europa, wie das Innovationssystem in einer ganzheitlichen Betrachtung der Aufgaben der Hochschulen im Wissensdreieck und in der Kultur weiterentwickelt werden kann. Dabei dürfen institutionelle und verfassungsrechtliche Gegebenheiten diesen langfristigen und ganzheitlichen Blick nicht verhindern und zur politischen Parzellierung einer zentralen europäischen Institution führen. Rolle, Wirkung und Potenzial der Hochschulen reichen weit über „growth and jobs“ hinaus und tragen nachhaltig zum gesellschaftlichen Zusammenhalt in Europa bei.

Europa sucht nach neuen Zielen. Die Schaffung einer Europäischen Bildungs-, Forschungs- und Innovationsgemeinschaft, die sich auf starke Hochschulen stützt und die Grundlage für ein lebendiges, innovatives und kulturell vielfältiges Europa bildet, könnte und sollte eines dieser Ziele sein.


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[1] Siehe dazu die Stellungnahme der Allianz der Wissenschafts­organisationen „Zur Zwischenevaluierung von Horizont 2020“, 13. Juli 2016, an der die HRK mitgewirkt hat: www.leopoldina.org/de/publikationen/detailansicht/publication/zur-zwischenevaluierung-von-horizon-2020-2016/ 


[2] www.timeshighereducation.com/world-university-rankings/funding-for-innovation-ranking-2016: Tabelle Average industry income per academic by country


[3] In diesem Zusammenhang wird künftig zu diskutieren sein, wie Indikatoren beschaffen sein müssen, die im Rahmen thematisch orientierter Forschung die nötigen Gestaltungsspielräume der Forschenden nachvollziehbar anzeigen.


[4] Robert Madelin and David Ringrose (ed.), Opportunity Now: Europe’s Mission to Innovate, July 2016; www.ewi-vlaanderen.be/sites/default/files/europes_mission_to_innovate.pdf; The Knowledge Future: Intelligent Policy Choices for Europe 2015, Report of an expert group on Foresight on Key Long-term Transformations of European systems: Research, Innovation and Higher Education (KT 2050), Brussels 2015: ec.europa.eu/research/foresight/pdf/knowledge_future_2050.pdf


[5] Robert Madelin and David Ringrose (ed.), ebda., S. 85-89