Perspektiven des Wissenschaftssystems


Entschließung des 124. HRK-Senats am 11.6.2013

I. Einleitung

Bildung und Wissenschaft haben eine große Bedeutung für die Zukunftsfähigkeit von Gesellschaft und Wirtschaft. Wachstum und Wohlstand hängen von der Innovationsfähigkeit, der Erschließung neuer Forschungsgebiete und der Ausbildung einer ausreichend großen Zahl hoch qualifizierter Fachkräfte ab. Um den großen gesellschaftlichen Herausforderungen und der internationalen Wettbewerbssituation gewachsen zu sein, müssen Breitenausbildung mit Spitzenforschung und Qualifikation hervorragender wissenschaftlicher Nachwuchskräfte in geeigneter Weise miteinander vereinbart werden. Dies kann nur gelingen, wenn die einzelnen Akteure im Wissenschaftssystem gestärkt werden und ihre Zusammenarbeit und Vernetzung über das erreichte Maß hinaus durch adäquate Kooperationsformen untereinander und mit der Gesellschaft weiter vorangetrieben wird. Die vorliegende Entschließung beschreibt die Rolle der Hochschulen in diesem Prozess:

II. Entschließungen

1. Die Hochschulen haben eine zentrale Rolle in unserem Wissenschaftssystem inne, weil sie die einzigen Stätten der Verknüpfung von auftragsfreier und drittmittelunabhängiger Forschung einerseits und von Lehre andererseits sind.

2. Die Hochschulen tragen die Verantwortung für die Ausbildung der qualifizierten Arbeitskräfte von morgen.

3. Durch ihre multidisziplinären
Forschungsleistungen tragen die Hochschulen wesentlich  zur Lösung der großen gesellschaftlichen Themen bei.

4. Die Herausforderungen der Zukunft sind nur durch eine stärkere Kooperation der Hochschulen mit den Akteuren des Wissenschaftssystems, mit der Wirtschaft und mit der Gesellschaft zu bewältigen.

5. Die Hochschulen benötigen eine auskömmliche und verlässliche Grundfinanzierung, um ihre zentrale Rolle auszufüllen, den zusätzlichen Aufgaben gerecht zu werden und die entscheidenden Impulse für die Weiterentwicklung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit des Wissenschaftssystem setzen zu können.

III. Begründung

1. Die zentrale Stellung der Hochschulen im Wissenschaftssystem
Der Hochschulbereich war in den letzten fünfzig Jahren tiefgreifenden Änderungsprozessen ausgesetzt:  Bildeten Hochschulen früher vorwiegend die Gruppe der Führungskräfte aus, so legen die Hochschulen heute den Grundstein für eine erfolgreiche Berufstätigkeit breiter Schichten und schaffen mit der Bereitstellung qualifizierter Kräfte für Wirtschaft und öffentliche  Arbeitgeber die Voraussetzungen für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit. Der Anteil der Studienanfänger an der gleichaltrigen Bevölkerung beträgt heute vierzig Prozent und mehr.
Die Gründung von Fachhochschulen war Anfang der siebziger Jahre ein erster Schritt, den veränderten Anforderungen des Arbeitsmarktes Rechnung zu tragen durch die Verbindung von Praxisnähe und wissenschaftlicher Vertiefung. Neue gesellschaftliche Herausforderungen in den Bereichen des Wissenstransfers, der wissenschaftlichen Weiterbildung, der Öffnung der Hochschulen für nicht-traditionelle Studierende und der Internationalisierung sowie eine stärkere Wettbewerbsorientierung des Gesamtsystems bedingen heute eine starke Binnendifferenzierung der einzelnen Hochschularten.
Mit der zunehmenden Differenzierung der Hochschulen hat das Element der Vernetzung und der Kooperation ähnlich oder komplementär aufgestellter Hochschulen an Bedeutung gewonnen. Im Interesse der Gewinnung der besten Kräfte, der Verbesserung der Durchlässigkeit und der Herstellung kritischer Größen forcieren Hochschulen die Zusammenarbeit und definieren gemeinsame strategische Ziele. Diese Entwicklung vollzieht sich sowohl innerhalb der einzelnen Hochschularten als auch hochschulübergreifend, auf nationaler Ebene und grenzüberschreitend.
Die Hochschulen nehmen eine zentrale Rolle in unserem Wissenschaftssystem ein, weil sie die einzigen Stätten der Verknüpfung von auftragsfreier und drittmittelunabhängiger Forschung einerseits und von Lehre andererseits sind. Während alle anderen Akteure des Wissenschaftssystems forschungs- und innovationszentriert sind, decken die Hochschulen das Wissensdreieck von Bildung, Forschung und Innovation voll umfänglich ab. Sie alleine haben das Recht zur Verleihung akademischer Grade, tragen also die Verantwortung für die Ausbildung der qualifizierten Arbeitskräfte von morgen, deren Bedarf fortwährend steigt. Der wissenschaftliche Nachwuchs bildet die unverzichtbare Basis für die Forschung in Deutschland, sei es an den Hochschulen, in den außeruniversitären Forschungseinrichtungen oder in den Forschungsabteilungen der Wirtschaft. Die Hochschulen weisen das breiteste Spektrum an wissenschaftlichen Disziplinen auf und bieten die besten Voraussetzungen für verschiedene Forschungsformen, interdisziplinäre Forschung und für Kooperation mit außeruniversitären Partnern.

2. Künftige Herausforderungen
Es ist Aufgabe der Hochschulen, den Wissenstransfer in die Gesellschaft sicherzustellen. Aufgrund ihres umfassenden Aufgabenspektrums sind sie dabei in mehrfacher Hinsicht gefordert. Zum einen müssen sie die kontinuierlich wachsende Nachfrage nach einer Hochschulausbildung und die daraus erwachsenden veränderten Anforderungen an das Hochschulstudium bewältigen, zum anderen müssen sie in Anbetracht der demographischen Entwicklung in der Zukunft noch mehr Anstrengungen unternehmen, um die Begabungsreserven umfassend zu mobilisieren und den Bedarf an hoch qualifizierten Arbeitskräften annähernd decken zu können. Dabei gilt es, eine stärkere Bildungsbeteiligung bisher bildungsferner Schichten zu realisieren und beruflich Qualifizierten ohne traditionelle Hochschulzugangsberechtigung eine Hochschulausbildung zu Teil werden zu lassen. Vor dem Hintergrund der immer kürzeren Innovationszyklen kommt zudem der Entfaltung des Potenzials der Hochschulen im Bereich der wissenschaftlichen Weiterbildung eine große Bedeutung zu.
Die Hochschulen müssen darüber hinaus Anstrengungen unternehmen, national und international genügend akademischen Nachwuchs zu gewinnen. Sie können damit auch Fachkräfte für die deutsche Wirtschaft sichern.
Nicht zuletzt müssen die Hochschulen durch ihre Forschungsleistung Beiträge zur Lösung der großen gesellschaftlichen Themen finden. Dabei hängt die Innovationsfähigkeit von Wirtschaft und Gesellschaft von Grundlagenforschung ebenso wie von anwendungsbezogener Forschung und Entwicklung ab.

3. Kooperation in der Wissenschaft
Das deutsche Wissenschaftssystem wird die großen Herausforderungen meistern können, wenn die einzelnen Akteure stärker als in der Vergangenheit kooperieren. Dabei sind sowohl vermehrte Kooperationen von Hochschulen untereinander als auch Kooperationen von Hochschulen mit außeruniversitären Partnern und der Wirtschaft notwendig.

Im Hochschulbereich können Kooperationen für gemeinsame Forschungsvorhaben, die Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses und kooperative Studienangebote genutzt werden. Sie bieten sich sowohl zwischen Hochschulen desselben Typs (bei ergänzenden Fächerangeboten, zur Schaffung kritischer Größe etc.) als auch zwischen unterschiedlichen Hochschultypen, Universitäten und Fachhochschulen oder wissenschaftlichen und künstlerischen Hochschulen an.

Die Zusammenarbeit zwischen Hochschulen und außeruniversitären Einrichtungen wurde in den vergangenen Jahren wesentlich intensiviert und muss weiter gestärkt werden. Vorteilhaft ist dabei die Ansiedlung von außeruniversitären Forschungseinrichtungen an einem Standort mit starken Hochschulen bis hin zur Zusammenarbeit in gemeinsamen Forschungszentren. Bewährte Elemente der Zusammenarbeit sind gemeinsam betriebene Sonderforschungsbereiche, Graduiertenkollegs und Infrastruktureinrichtungen sowie Institutionen übergreifende Berufungen. Durch das Zusammenwirken an einem Wissenschaftsstandort ergeben sich vielfältige Möglichkeiten, exzellente Forschende aus dem In- und Ausland zu gewinnen und zu halten sowie international konkurrenzfähige Spitzenforschung aufzubauen. Die Koordinierung von strategischen Forschungsvorhaben muss weiter verbessert, der Betrieb von institutionenübergreifenden Forschungsinfrastrukturen ermöglicht und die gemeinsame Nutzung erleichtert werden.

Während die Kooperation in der Vergangenheit überwiegend in Form konkreter Projekte stattfand, sollten in Zukunft strategische Partnerschaften mit der Abstimmung mittel- bis langfristiger Planungen gestärkt werden. Flexible, handlungsfähige Netzwerke sind strategische Instrumente, die den Herausforderungen der Internationalisierung, der Vermehrung des Wissens unter Beteiligung möglichst vieler Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen und dem Wettbewerb am ehesten entsprechen.

Die Kooperationen sollten auf konkreten vertraglichen Vereinbarungen zwischen Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen unter Anerkennung ihrer unterschiedlichen Wesensmerkmale und Aufgabenstellungen basieren. Solche Kooperationen sollen die Forschungsbedingungen der Hochschulen und der außeruniversitären Partner stärken.

4. Kooperation Hochschule - Wirtschaft
Hochschulen und Wirtschaft arbeiten heute bereits eng zusammen. Das Ausmaß der Kooperationen schlägt sich im Umfang von Drittmitteln aus Unternehmen nieder. Das Potenzial dieser Kooperationen ist aber noch nicht ausgeschöpft, die Zusammenarbeit geschieht häufig auf individueller Ebene und ist noch selten im Sinne strategischer Partnerschaften angelegt. Von einer noch intensiveren Zusammenarbeit können Hochschulen im Bereich der Lehre  und beide Partner in der  Forschung profitieren.

Eine Intensivierung der Kooperationen setzt eine gleichberechtigte Partnerschaft zwischen Hochschulen und Unternehmen voraus, das bedeutet, dass die Partner die jeweils andere Kultur respektieren. Aus Sicht der Wirtschaft bedeutet dies, dass die Bereitschaft besteht, die Freiheit von Forschung und Lehre zu respektieren und für erbrachte Dienstleistungen marktgerechte Preise (einschließlich Overheadkosten) zu zahlen. Aus Sicht der Hochschulen ist das unternehmerische Interesse zu respektieren.

5. Sicherung der Zukunft des Wissenschaftssystems
Um ihre zentrale Rolle auszufüllen, den zusätzlichen Aufgaben gerecht zu werden und die entscheidenden Impulse für die Weiterentwicklung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit des Wissenschaftssystem setzen zu können, benötigen die Hochschulen eine auskömmliche und verlässliche Grundfinanzierung(1). Es sind Entscheidungsspielräume notwendig, die ihnen längerfristige Planungssicherheit und eine notwendige Flexibilität in der Ausgabengestaltung geben.

Die Finanzierung der Hochschulen muss mit der wachsenden Nachfrage nach einem Hochschulstudium Schritt halten. Die Finanzzuwächse im Bereich der Drittmittel können die fehlende Grundfinanzierung nicht ersetzen, vielmehr bedarf es einer entsprechenden Grundausstattung, um Drittmittel erfolgreich einsetzen zu können und die strukturelle Planungssicherheit zu  erreichen.

Bei den unterschiedlichen Finanzierungsmodalitäten für Hochschulen und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen muss die Balance zwischen den Akteuren des Wissenschaftssystems gegeben sein.
Die Zuständigkeit der Länder für den Hochschulbereich sollte nicht in Frage gestellt werden. Der Bund sollte jedoch die Länder bei der Finanzierung der Lehre unterstützen und entlastend eingreifen dürfen.
Das heißt die Kooperationsmöglichkeiten von Bund und Ländern bei der Grundfinanzierung der Hochschulen müssen durch eine Änderung des Grundgesetzes verbessert werden und die Länder müssen im Zuge der Finanzverteilung in die Lage versetzt werden, den Bildungsbereich angemessen zu finanzieren.

Flankierend zu einer verbesserten Grundfinanzierung müssen die Hochschulen angemessene Overhead-Mittel für die Einwerbung und Administration von Drittmitteln aus öffentlichen Quellen erhalten, damit drittmittelstarke Hochschulen keine Nachteile durch ihren Erfolg erleiden. Wettbewerblich vergebene Mittel sollten zusätzlich, nicht aber als Ersatz für fehlende Grundmittel vergeben werden.

Die Strukturförderung in Form von Graduiertenschulen und Exzellenzclustern im Rahmen der Exzellenzinitiative hat sich bewährt Diese sollten dauerhaft als Instrument etabliert werden. Exzellente Forschungsbereiche sollen integrale Bestandteile der Hochschule bleiben und nicht an andere Institutionen überführt werden.

Neben den hochschulrechtlichen Voraussetzungen sollten verbesserte Möglichkeiten geschaffen werden, um den im internationalen Vergleich besonders niedrigen Anteil privater Mittel an der Hochschulfinanzierung zu steigern.

Die Stärkung der Hochschulen hängt nicht zuletzt von den Möglichkeiten zur Profilbildung ab. Diese werden wesentlich durch die im Rahmen der Hochschulautonomie gewährten Gestaltungsmöglichkeiten bestimmt(2). Die für die außeruniversitäre Forschung auf den Weg gebrachte Autonomiegewährung in bestimmten Bereichen wie Haushalt, Personal und Bauten muss deshalb auch konsequent für die Hochschulen eingeführt bzw. ausgebaut werden. Restriktive Vorschriften benachteiligen sie im nationalen und internationalen Wettbewerb.



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(1) S. dazu im Einzelnen: "Finanzierung der Hochschulen", Entschließung der 11. Mitgliederversammlung der HRK am 22.11.2011.

(2) S. dazu im Einzelnen: "Zur Hochschulautonomie", Entschließung der 10. Mitgliederversammlung am 3.5.2011