Eine Hochschule für Alle


6. Mitgliederversammlung am 21.4.2009

Zum Studium mit Behinderung/chronischer Krankheit
Zwar gibt es seit etwa 20 Jahren Bemühungen, für Menschen mit Behinderung gleiche Chancen beim Hochschulstudium zu schaffen. Gleichstellungsgesetze in Bund und Ländern zeugen von den verbesserten rechtlichen Rahmenbedingungen, und das Thema "Barrierefreiheit" [1] hat im Hochschulbereich Einzug gehalten. Gleichwohl muss man heute feststellen: Die besonderen Belange von Studierenden mit Behinderung/chronischer Krankheit werden in den Hochschulen häufig nicht ausreichend berücksichtigt. [2] Es liegt in der Verantwortung der Hochschulleitung, sich dieser Thematik anzunehmen und zusammen mit den Beauftragten für die Belange der behinderten Studierenden, deren Interessenvertretungen sowie weiteren Kooperationspartnern die Barrieren abzubauen. In einigen Bereichen - siehe III. - müssen dazu die rechtlichen und verwaltungstechnischen Rahmenbedingungen geändert werden.

I. Aktuelle Situation der Studierenden mit Behinderung /chronischer Krankheit

1. Ausgangslage
Die deutsche Hochschullandschaft hat sich in den letzten 15 Jahren gravierend verändert. Qualitätssicherung und -steigerung durch Wettbewerb hat zur Steigerung der Hochschulautonomie geführt. So sind die Hochschulen wesentlich freier in der Aufnahmepolitik, in der Profilbildung in Lehre und Forschung sowie in der Gestaltung der Curricula. Nicht zuletzt sind die Entscheidungsbefugnisse der Hochschulleitungen angewachsen. Damit sind die Möglichkeiten der Hochschulen gestiegen, die Teilhabe der Studierenden mit Behinderung zu verbessern.

Im Rahmen des Bologna-Prozesses sollen bis zum Jahre 2010 alle Studiengänge inhaltlich neu gestaltet und auf das zweistufige, modularisierte Bachelor-Master-System umgestellt werden. Auch die sich daraus ergebenden besonderen Gestaltungschancen sollten die Hochschulen nutzen.Ein zweiter wesentlicher Aspekt für die Wiederaufnahme der Diskussion durch die HRK ist, dass sich das Bild von Menschen mit Behinderung grundlegend gewandelt hat.Im Mittelpunkt der Debatte steht nicht mehr der Ausgleich der als Defizit verstandenen individuellen gesundheitlichen Schädigung, sondern die Realisierung von chancengerechter Teilhabe durch die Gestaltung einer barrierefreien Umwelt. Die selbstbewusster vorgetragenen Forderungen behinderter Menschen nach Selbstbestimmung und Gleichstellung werden zunehmend anerkannt. Ihre Rechte sind durch das Diskriminierungsverbot des Grundgesetzes, das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, die Gleichstellungsgesetze in Bund und Ländern und das Übereinkommen über die Rechte behinderter Menschen der Vereinten Nationen gestärkt worden.

Auf dieser Grundlage gilt es, den Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik auch im Hochschulbereich zu befördern. Nach In-Kraft-Treten des Behindertengleichstellungsgesetzes des Bundes (2002) wurden das Hochschulrahmengesetz (HRG) und infolgedessen die Hochschulgesetze der Länder entsprechend weiterentwickelt. Danach haben die Hochschulen die Aufgabe, "dass behinderte Studierende in ihrem Studium nicht benachteiligt werden und die Angebote der Hochschule möglichst ohne fremde Hilfe in Anspruch nehmen können" (§ 2 Abs. 4 HRG). Gleichzeitig müssen Prüfungsordnungen "die besonderen Belange behinderter Studierender zur Wahrung ihrer Chancengleichheit berücksichtigen" (§ 16 Satz 4 HRG). Das übergreifende Ziel besteht darin, eine "Hochschule für Alle" zu entwickeln, welche die chancengleiche Teilhabe für alle Studierenden sichert. Die umfassende Beteiligung der behinderten Studierenden kann das Kreativitätspotential der Hochschulen erweitern, denn sie begegnen ihren behinderungs- bzw. krankheitsbedingten Einschränkungen häufig mit der Entwicklung alternativer Lösungswege.

Die veränderten Rahmenbedingungen an den Hochschulen bieten behinderten Studierenden einerseits Chancen auf größere Teilhabe, andererseits sind neue Risiken entstanden, z.B. durch die strikteren Lernverpflichtungen der Studierenden im Rahmen der Bachelor- und Masterprogramme. Konsequenzen hat das besonders für die große Gruppe der chronisch kranken Studierenden mit nichtsichtbaren Behinderungen, wie z.B. Rheumatiker, Dialysepatienten, Legastheniker oder psychisch Kranke, die bislang ihre - oft periodisch verlaufenden - Studienbeeinträchtigungen zumeist selbstständig kompensieren konnten und jetzt erstmalig auf Nachteilsausgleiche im Studium angewiesen sind.

Im Übrigen ist die Gruppe der von Behinderung und chronischer Krankheit betroffenen Studierenden größer als viele denken: 2006 gaben 8 Prozent der Studierenden an, sich durch eine gesundheitliche Schädigung im Studium beeinträchtigt zu fühlen. Knapp die Hälfte dieser Gruppe gibt eine mittlere bis starke Studienbeeinträchtigung an. Insbesondere diese Studierenden - also ca. 4 Prozent aller Studierenden - sind auf individuelle Nachteilsausgleiche und spezifische Unterstützungen im Studium angewiesen.

II. Probleme und Lösungen

1. Vor der Studienaufnahme
Vor der Aufnahme eines Studiums werden von den Stu-dieninteressierten Entscheidungen getroffen, die sich auf den Studienerfolg auswirken können. Der Planungsaufwand für behinderte Studierende ist sehr groß. Dies bedingt, dass auch der Vorlauf für den Wechsel von der Schule zur Universität lang ist. Unsicherheiten bei der Studienzulassung führen dazu, dass Behinderte nicht ausreichend planen können, weil sie oft erst sehr spät erfahren, an welcher Universität sie eine Zulassung bekommen. Vor diesem Hintergrund sind die folgenden Maßnahmen wichtig:

a. Studienorientierung
Insbesondere Schülerinnen und Schüler mit Behinderung müssen bereits zu Beginn der Oberstufe über die bestehenden Wahlmöglichkeiten und die sich daran anknüpfenden Folgen für die Studienwahl umfassend informiert werden. Bestehende Kooperationen mit den Studienberatungen der Hochschulen und weiteren Beteiligten (insbesondere den Beratungsstellen für Studierende mit Behinderung) sollten ausgebaut und ggf. neue aufgebaut werden, um die besonderen Belange von Schülern und Schülerinnen mit Behinderung in dem Orientierungsprozess berücksichtigen zu können.Informations- und Beratungsangebote der Schulen müssen barrierefrei zugänglich sein. Dazu gehören entsprechend gestaltete Internetangebote und Beratungsstellen, die bei Bedarf individuell angepasste Unterstützung zur Verfügung stellen können.

b. Studien- und Berufsberatung
Die Studienberatungen der Hochschulen sollten ebenfalls barrierefrei aufgesucht werden können. Eine enge Kooperation mit den speziellen Beratungsangeboten für Studierende mit Behinderung (insbesondere den Beauftragten für ihre Belange, ihren Interessenvertretungen und den psychosozialen Beratungen der Studentenwerke) kann entsprechende Expertise bereitstellen. Empfehlenswert sind auch Weiterbildungsangebote für Studienberaterinnen und Studienberater, damit diese besser auf die besonderen Belange der Studierenden mit Behinderung eingehen können.Ein wichtiger Aspekt der Beratung besteht vor und während des Studiums im Hinblick auf mögliche spätere Tätigkeiten. Diese Beratung muss Behinderungen und chronische Krankheiten als eventuell einschränkende Faktoren in die Betrachtung einbeziehen, ggf. sind Experten hinzuzuziehen.

c. Zulassung
Im Falle örtlicher Zulassungsbeschränkungen müssen die Hochschulen deren Auswirkungen auf Bewerberinnen und Bewerber mit Behinderung berücksichtigen. Auswahlkriterien können einer Zulassung entgegenstehen, wenn nicht zugleich Regelungen im Sinne eines Nachteilsausgleichs eingeführt werden. Wenn neben der Durchschnittsnote zusätzliche Kriterien die Zulassungschancen beeinflussen, kann ein individueller Nachteilsausgleich innerhalb der Hauptquoten oder durch Einrichtung einer Härtefallquote erforderlich werden, um Chancengleichheit für chronisch kranke Studieninteressierte herzustellen. Hierbei geht es nicht um einen Verzicht auf Qualifikationen, sondern um die Möglichkeit, entsprechende vorhandene Kenntnisse und Erfahrungen auf andere Art als üblich nachzuweisen. Denkbar ist in diesem Zusammenhang z.B. das Ersetzen eines längeren Praktikums durch den Nachweis einer Reihe von Hospitationen.Kaum eine Aufzählung möglicher Nachteilsausgleiche würde alle in der Realität vorkommenden individuellen Situationen erfassen können. Es muss daher den handelnden Gremien und Personen durch die Aufnahme allgemeiner Befugnisse in die Ordnungen der Hochschule ermöglicht werden, von der Regel abweichende Einzelfallentscheidungen zu treffen. Dies gilt insbesondere für die Gestaltung von Auswahl- und Testverfahren. Ortspräferenzen sollten bei der Prüfung der Studienmotivation gleichberechtigt neben anderen Motivationen anerkannt werden, sofern sie behinderungsbedingt sind, wie zum Beispiel spezielle Studienangebote, geeignete Rehabilitationseinrichtungen und Wohnmöglichkeiten.Im Übrigen sollten Personen mit schwerer Behinderung so früh wie irgend möglich eine Nachricht über die Zulassung bekommen, so dass Zulassungsfragen vorab besprochen werden können

2. Während des Studiums
a. Studiengestaltung und Prüfungen

Die modularisierte Studienstruktur der Bachelor- und Master-Studiengänge hilft vielen Studierenden, zielgerichtet zu studieren und das Studium erfolgreich abzuschließen. Probleme können sich für jene Studierende ergeben, die behinderungsbedingt zeitliche oder inhaltlich-formale Vorgaben nicht einhalten können. Dabei kann es sich um Fristen, Anwesenheitspflichten, aber auch um Bestimmungen zu Reihenfolge, Art und Form von Studien- und Prüfungsabschnitten handeln.

Es bedarf daher einer erhöhten Flexibilität der Studienstruktur, damit Studierende mit Behinderung die Möglichkeit haben, ihre Studienbeeinträchtigungen individuell auszugleichen. Zu empfehlen ist in jedem Fall die Verankerung von Regelungen in den Studien- und Prüfungsordnungen, die es den verantwortlichen Personen ermöglichen, Nachteilsausgleiche bei der Gestaltung von Fristen, Workload und Prüfungen im Interesse von Studierenden mit Behinderung zu gewähren. Denkbar sind u.a. Modifikationen oder der Verzicht auf die Präsenzpflicht, Ersatz von bestimmten Leistungsnachweisen durch geeignete Surrogate, flexiblere Gewährung von Beurlaubungen, Wechsel vom Vollzeit- ins Teilzeitstudium und umgekehrt. Nachteilsausgleiche dürfen in Zeugnissen, Diploma Supplements u.ä. nicht vermerkt werden.Die Umsetzung dieser Vorschläge könnte die Arbeits- und Studiensituation der behinderten Studierenden deutlich verbessern. Die zuständigen Gremien und Personen sollten sich der großen Expertise der Beauftragten für die Belange der Studierenden mit Behinderung, deren Interessenvertretungen und der Beratungsstellen der Studentenwerke bedienen. Verantwortlichkeiten sollten eindeutig geregelt und diese Regelungen transparent gemacht werden.In manchen Fällen können Teilzeit- oder Fernstudiengänge eine individuelle Studienplanung erleichtern. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Studierende in Teilzeit-Studiengängen keinen Anspruch auf BAföG-Förderung haben. Nachteilsausgleiche können auch in Teilzeitstudiengängen erforderlich sein.

Die Career Services der Hochschulen sollten in ihre Angebote systematisch die besonderen Belange von Studierenden mit Behinderung einbeziehen.

b. Gebäude
Die Zulassung zum Studium erfordert behindertengerechte Rahmenbedingungen. Dabei muss ausreichend zwischen den verschiedenen Arten von Behinderungen differenziert werden. Gehbehinderte Studierende benötigen einen hindernisfreien Zugang zu Hörsälen und Bibliotheken sowie Parkplätze in erreichbarer Nähe. Für Sehbehinderte stellen Universitäten eine Herausforderung dar, weil sie häufig nicht auf deren Belange eingehen (z. B. ist das für sie unlesbare Schwarze Brett mit Anschlag von aktuellen Veranstaltungen immer noch üblich). Notwendig sind daher nicht nur besondere Arbeitsplätze mit entsprechender Computerausstattung. Hinzukommen muss, dass Wegweiser in Gebäuden, Ankündigungen von Veranstaltungen und Vorlesungen für Sehbehinderte aufbereitet werden.

Generell sind bei Baumaßnahmen der Hochschulen die entsprechenden Regelungen zum barrierefreien Bauen (u.a. Landesbauordnungen und DIN-Normen) zu beachten. Eine barrierefrei gestaltete Umwelt berücksichtigt die Belange von mobilitätsbeeinträchtigten ebenso wie die von seh- und hörbehinderten Personen. Die Einrichtung spezieller Arbeitsräume und die Umrüstung von Labors sollten ebenso wie das Bereitstellen von Ruheräumen geprüft werden.

c. Information und Kommunikation
E-Mail, Internet und elektronische Datenbanken können die Studienbedingungen besonders von behinderten Studierenden stark verbessern, die in besonderem Maße auf zeit-, orts- und wahrnehmungsunabhängige Informationen angewiesen sind. Umso wichtiger ist es, dass alle Informationen, die das Studium und die damit verbundenen Verwaltungsvorgänge betreffen, barrierefrei gemäß den entsprechenden Informationstechnik-Verordnungen der Länder gestaltet sind. So sollten die Formulare in elektronischen Zulassungs-, Anmelde- und Rückmeldeverfahren barrierefrei gestaltet werden.

d. Beauftragte für die Belange von Studierenden mit Behinderung/chronischer Krankheit
Eine wichtige Mittlerfunktion zwischen den Studierenden und den Hochschulleitungen nehmen die Beauftragten für die Belange der Studierenden mit Behinderung sowie die Interessenvertretungen dieser Studierenden ein (vgl. Stellungnahme der WRK vom 3.11.1986 "Hochschule und Behinderte. Zur Verbesserung der Situation von behinderten Studieninteressierten und Studenten an der Hochschule"). Diese Personen sollten daher die volle Unterstützung ihrer Rektorate und Präsidien bei ihrer Arbeit erhalten, z.B. durch Bereitstellung geeigneter Räumlichkeiten und Infrastruktur, Gewährung eigener Budgets und systematische Einbindung in alle relevanten Entscheidungsprozesse.

e. Lehre und Serviceleistungen
Für Lehrende sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Serviceeinheiten sollte ein Angebot an Fortbildungsmaßnahmen gemacht werden, welche sie über die besonderen Belange der Studierenden mit Behinderung sensibilisiert und über die Anforderungen an eine barrierefreie Hochschuldidaktik informiert.

Lehrende sollten es als Teil ihres Lehrauftrags ansehen, in Lehre und Beratung systematisch die besonderen Belange der Studierenden mit chronischer Krankheit einzubeziehen. Hierzu kann u.a. das Überlassen von Skripten, die Erlaubnis zur Aufzeichnung von Lehrveranstaltungen oder die mündliche Erläuterung von optischen Darstellungen zählen. Entscheidend ist, dass Lehrende und Studierende mit Behinderung aufeinander zugehen, Bedarfe erörtern und Vorgehensweisen miteinander absprechen.

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Beratungs- und Serviceeinheiten, insbesondere auch in den Fachstudienberatungen, sollten sich zusätzliche Kompetenzen aneignen können, die ihnen die Unterstützung von Studierenden mit chronischer Krankheit erleichtern. Neben behinderungsbezogenen Informationsangeboten kommen auch allgemeine Schulungen zu speziellen aktuellen Themen in Betracht, z.B. zur Umsetzung des Bologna-Prozesses oder zur Kommunikation.

f. Finanzierung

aa. Studienfinanzierung
Neben der Finanzierung des Lebensunterhalts und des Studienbedarfs haben Studierende mit Behinderung häufig einen behinderungsbedingten Mehrbedarf. Die Finanzierung über eine eigene Erwerbstätigkeit ist für sie, wenn überhaupt, nur in weitaus geringerem Maße möglich als für Studierende ohne Behinderung. Sofern sie ihre Finanzierung über staatliche Wege realisieren, besteht das Problem darin, dass diese erst mit Verzögerung und / oder nicht im erforderlichen Umfang bewilligt wird. Eine rückwirkende Kostenübernahme ist ausgeschlossen. Weiterhin bewirkt der Aufwand, den ein Wechsel der Leistungsträger stets zur Folge hat, ein Hemmnis zum Studienortwechsel und zum Auslandsstudium.Mögliche Folgen sind: Studienverzögerungen, Erschwerungen bei der Durchführung von Auslandsaufenthalten und Praktika, schlechtere Prüfungsleistungen und Studienabbruch. Für den Fall, dass sich die Finanzierung der notwendigen Hilfen und Assistenzen verzögert, brauchen die betroffenen Studierenden daher die besondere Unterstützung ihrer Hochschulen, z.B. durch nachteilsausgleichende Regelungen. Es kann auch zu einer unterschiedlichen Beurteilung von Einzelfällen kommen. So kann z.B. eine Hochschule einen chronisch kranken Bachelor-Absolventen zum Masterstudium zulassen, der zuständige Sozialhilfeträger jedoch den behinderungsbedingten Mehrbedarf unter Hinweis auf den ersten Studienabschluss verweigern. Während der Promotionsphase schließlich werden keine entsprechenden Leistungen durch die örtlichen und überörtlichen Sozialhilfeträger gewährt.

bb. Studienbeiträge
Studienbeiträge sind nur akzeptabel, wenn sie für die Verbesserung der Lehre und der Studienbedingungen aller Studierenden eingesetzt werden können. Der Verzicht auf die Erhebung von Studienbeiträgen einzelner Studierender oder Gruppen geht damit zu Lasten der übrigen Studierenden. Ausnahmeregelungen sollten deshalb nur restriktiv eingeführt werden.Wenn danach grundsätzlich auch Studierende mit Behinderung Studienbeiträge zu entrichten haben, so sollten ihnen nach dem Gebot der Sozialverträglichkeit im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entsprechende Leistungen des Staates zustehen.

Es besteht auch die Möglichkeit, dass eine Hochschule die Förderung der Studierenden mit chronischer Krankheit über den gesetzlichen Auftrag hinaus als profilbildendes Element begreift und, ggf. mit Unterstützung Dritter, entsprechende Stipendien bereitstellt oder doch eine Befreiung von der Zahlungspflicht vorsieht. Denkbar ist in diesem Zusammenhang auch, dass der Staat solche Bemühungen im Rahmen der Budgetverhandlungen honoriert.

III. Rolle des Staates
Die Sicherung und Verbesserung der Chancengleichheit für behinderte und chronisch kranke Studierende hängt wesentlich von entsprechenden staatlichen (Rechts-)Vorgaben ab. Dies betrifft insbesondere die Aufhebung von Widersprüchen zwischen dem Sozialrecht und der faktischen Interpretation in den verantwortlichen Institutionen sowie die Verbesserung des faktischen Umgangs mit rechtlich bestehenden Ansprüchen.

1. Widersprüche zwischen Sozialrecht und Hochschulalltag
Behinderungs- bzw. krankheitsbedingte Mehrbedarfe während des Studiums können i.d.R. vom überörtlichen Träger der Sozialhilfe übernommen werden. Aus der Praxis wird von einer Vielzahl von Fällen berichtet, in denen dieser Mehrbedarf jedoch nur bis zum ersten berufsqualifizierenden Abschluss gezahlt wird, während das "allgemeine" Sozialrecht in Gestalt des BAföG regelmäßig auch einen auf einen Bachelor-Abschluss aufbauenden weiteren Abschluss fördert.In diesen Fällen ist der Gesetzgeber gefordert, dafür Sorge zu tragen, dass die sozialrechtliche Ausfinanzierung des hochschulrechtlich Möglichen und gesellschaftspolitisch Erwünschten sichergestellt wird. Parallel dazu sind die zuständigen Behörden aufgefordert, bei der Einzelfallprüfung die hochschulrechtlichen Rahmenbedingungen einzubeziehen.

2. Umsetzung bestehender Ansprüche
Die Bearbeitung von Anträgen auf studienbedingten Mehrbedarf darf in keinem Fall die Aufnahme des Studiums verzögern. Gerade in den Fällen, in denen mit einem Fortschreiten der Einschränkungen zu rechnen ist, wirkt sich dies negativ auf die Studiendauer aus. Die zuständigen Behörden sollten in diesen Fällen verstärkt von den Möglichkeiten zur vorläufigen Förderung Gebrauch machen. Dies ist aus sozialstaatlichen Gründen unabdingbar, denn durch eine rasche Studienaufnahme werden verlängerte Studiendauern vermieden und darüber auch die unmittelbaren und mittelbaren Kosten des Studiums (Verdienstausfall aufgrund eines späteren Abschlusses).

IV. Selbstverpflichtung und Evaluation
Die in der Hochschulrektorenkonferenz zusammengeschlossenen Hochschulen erkennen die besondere Situation von Studierenden mit Behinderung an und bekennen sich dazu, die Chancengleichheit für diese Studierenden zu sichern.

Um die Lösung ortsspezifischer Probleme zu befördern, sollten die Hochschulleitungen in einem ersten Schritt innerhalb der nächsten 12 Monate Gespräche mit den Beraterinnen und Beratern sowie den Beauftragten für die Belange der Studierenden mit Behinderung und chronischer Krankheit in den Hochschulen und Studentenwerken, den Interessenvertretungen dieser Studierenden und ggf. weiteren Beteiligten führen, um sich über deren Sicht der Situation an der eigenen Hochschule zu informieren.

Parallel dazu sollten die Hochschulverwaltungen überprüfen, in welchem Umfang die in dieser Empfehlung dargelegten Standards (wie z.B. die Verankerung des Nachteilsausgleichs in den Studien- und Prüfungsordnungen) in ihren Zuständigkeitsbereichen eingehalten werden.

Das Präsidium der HRK wird unter Hinweis auf die soziale Dimension des Bologna-Prozesses gegenüber der Kultusministerkonferenz und dem Bundesministerium für Bildung und Forschung auf eine Auflösung der Widersprüche zwischen Sozial- und Hochschulrecht hinzuwirken.

Eine Evaluation der Umsetzung dieser Empfehlung sollte 2012 erfolgen.

Anmerkungen
[1] "Barrierefrei sind bauliche und sonstige Anlagen, Verkehrsmittel, technische Gebrauchsgegenstände, Systeme der Informationsverarbeitung, akustische und visuelle Informationsquellen und Kommunikationseinrichtungen sowie andere gestaltete Lebensbereiche, wenn sie für behinderte Menschen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar sind". (§4 Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen [BGG]; entsprechend die Vorschriften in den einschlägigen Landesgesetzen.)

[2] So die Ergebnisse der Sozialerhebungen des Deutschen Studentenwerks. Ergänzend auch die in der Anlage aufgeführten Materialien.

Bündnis barrierefreies Studium
"Chancengleichheit im Bologna-Prozess für behinderte und chronisch kranke Studierende sowie Studienplatzbewerberinnen und -bewerber" Bündnis barrierefreies Studium, Februar 2007http://www.studentenwerke.de/pdf/Buendnis barrierefreies_Studium_Bologna_19_03_07.pdf

Deutsches Studentenwerk
"Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in der Bundesrepublik Deutschland 2006" - 18. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks http://www.bmbf.de/pub/wsldsl_2006.pdf

"Chancengleichheit für Studierende mit Behinderung und chronischer Krankheit bei Einführung von BA- und MA-Studiengängen sichern"

Empfehlung zur Umsetzung der Eckpunkte "Für eine barrierefreie Hochschule", Informations- und Beratungsstelle Studium und Behinderung des DSW, Berlin Februar 2005 http://www.studentenwerke.de/pdf/StudBeh_BaMa_02.2005.pdf

"Studium und Behinderung. Praktische Tipps und Informationen für Studieninteressierte und Studierende mit Behinderung/ chronischer Krankheit"

Hrsg: DSW, 6. Auflage 2005http://www.studentenwerke.de/pdf/Studium_Behinderung_komplett.pdf

"Leitfaden für Beauftragte für Behindertenfragen bei Hochschulen und Studentenwerken"Hrsg: Informations- und Beratungsstelle Studium und Behinderung des DSW, Bonn 2000 http://www.studentenwerke.de/pdf/Leitfaden.pdf

"Leitlinien zur Verbesserung der Situation behinderter und chronisch kranker Studierender im Studentenwerksbereich"Hrsg: Informations- und Beratungsstelle Studium und Behinderung des DSW, Bonn 1996 http://www.studentenwerke.de/pdf/Leitlinien_Stw.pdf

"Leitlinien zur Verbesserung der Situation behinderter und chronisch kranker Studierender im Studentenwerksbereich"Hrsg: Informations- und Beratungsstelle Studium und Behinderung des DSW, Bonn 1996 http://www.studentenwerke.de/pdf/Leitlinien_Stw.pdf

Hochschulrektorenkonferenz
"Hochschule und Behinderte. Zur Verbesserung der Situation von behinderten Studieninteressierten und Studenten an der Hochschule" Stellungnahme der 150. Plenarversammlung der Westdeutschen Rektorenkonferenz Bonn, 3.11.1986 http://www.studentenwerke.de/main/default.asp?id=0660

Kultusministerkonferenz"Verbesserung der Ausbildung für Behinderte im Hochschulbereich" Empfehlung der Kultusministerkonferenz vom 25.06.1982http://www.studierendenwerke.de/pdf/KMK_Empfehlung.pdf

Bericht zum Stand der Umsetzung der KMK-Empfehlung "Verbesserung der Ausbildung für Behinderte im Hochschulbereich" Beschluss der KMK vom 08.09.1995 http://www.studentenwerke.de/pdf/Bericht_zur_Umsetzung.pdf

OECD "Disability in Higher Education" www.oecdbookshop.org/oecd/display.asp