Eckpunkte für ein neues Kapazitätsrecht in einem auszubauenden Hochschulsystem


102. Senat vom 10.10.2006



Zusammenfassung

a. Die Aufnahme- und Ausbildungskapazitäten der einzelnen Hochschule pro Fächergruppe /Fakultät bzw. Fachbereich werden vertraglich durch Zielvereinbarungen im Rahmen eines Wettbewerbsmodells zwischen Land und Hochschule festgelegt. Die Vereinbarung kann sich auf einen Zeitraum von mehr als einem Jahr beziehen.

b. Das Ergebnis (d.h. die Studienplatzzahlen in den jeweiligen Lehreinheiten) wird als Anlage zum jeweiligen Haushaltsgesetz parlamentarisch bestätigt. Dadurch wird zugleich die (verwaltungs-) gerichtliche Kontrolle begrenzt.

c. Die in der Zielvereinbarung festgelegten Aufnahme- und Ausbildungskapazitäten müssen als Grundausstattung für die Lehre die erforderlichen Mindestqualitätsstandards beachten. Diese Standards werden aufgrund von Empfehlungen des Wissenschaftsrates und unter Berücksichtigung der gestiegenen Anforderungen an die Grundausstattung in den gestuften Studienstrukturen festgelegt. Solange Wissenschaftsempfehlungen fehlen, werden in Moratorien jeweils zwischen Land und seinen Hochschulen entsprechende Vereinbarungen auf der Grundlage der bisherigen Aufnahmekapazitäten und den Anforderungen der Studienstrukturreform getroffen.

d. Höhere Qualitätsstandards (im Zweifel orientiert an den internationalen Wettbewerbsstandards und dokumentiert im Akkreditierungsantrag, und / oder in Studien- und Prüfungsordnung, Studienplan) kann die Hochschule durch den Einsatz zusätzlicher Mittel (aus Studienbeiträgen und anderen Drittmitteln) realisieren, ohne dass diese Mittel sich auf die Aufnahmekapazität auswirken. Dies muss gesetzlich, namentlich mit Blick auf die Finanzströme, verankert werden.

I. Ausgangslage


1. Das Kapazitätsrecht prägt ganz wesentlich die Rahmenbedingungen der von den deutschen Hochschulen angebotenen Studiengänge, für die bundesweit bzw. örtlich auf Grund einer Übernachfrage eine Zulassungsbeschränkung besteht. Die Hochschulen werden durch das Kapazitätsrecht auf bundesweit einheitliche Betreuungsrelationen festgelegt. Damit wird ein wesentlicher Aspekt für die Steuerung der Qualität von Studiengängen der Gestaltung durch die Hochschulen entzogen. Hinzu kommt, dass auf Grund der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle der Einhaltung dieser Vorgaben immer wieder Prozessrisiken entstehen.


2. Das geltende Kapazitätsrecht wurde ursprünglich für einen begrenzten Zeitraum der "Überlast" in der Lehre bei weitgehend bundesweit einheitlichen Studien- und Prüfungsordnungen für die betroffenen Fächer sowie gleicher Modelle der Organisation und Finanzierung der Hochschulen entwickelt. Entgegen dieser Zielsetzung und allen politischen Absichtserklärungen wird das Kapazitätsrecht seit langem auch als Planungsinstrument für die "Normallast" der Hochschulausbildung herangezogen. Berücksichtigt wurden und werden in erster Linie die Interessen und Rechte der Studierwilligen, nicht aber die Interessen der Studierenden und der Hochschullehrer. Auch der Wettbewerbsgedanken (national / international) sowie der damit verbundene Exzellenzgedanke spielten keine Rolle. 3. Gleichwohl bestehende Unterschiede, vor allem in der finanziellen Ausstattung, waren durch die unterschiedliche finanzielle Leistungsfähigkeit der Länder bestimmt.


II. Veränderte Rahmenbedingungen


4. In den letzten Jahren haben sich wesentliche Rahmenbedingungen, die für das herkömmliche Modell bestimmend waren, verändert.

a. Im Rahmen des Bologna-Prozesses sind die meisten Studiengänge neu zu gestalten. Dabei ändern sich nicht nur deren Strukturen und Inhalte. Hinzu kommen vielmehr neue Lehrformen sowie eine stärkere Unterscheidung der Studiengänge gleicher Fachrichtungen an den einzelnen Hochschulen. Dies führt zu einer bislang nicht bekannten inhaltlichen und strukturellen Vielfalt.

b. In der Wissenschaftspolitik hat sich - anknüpfend an ein allgemeines neues Leitbild für die öffentliche Verwaltung - der Wettbewerbsgedanke als neues ordnungspolitisches Leitbild etabliert. Dies gilt sowohl für die nationale als auch für die internationale Ebene. Im Bereich der Besoldung ist durch die Umstellung auf leistungsbezogene Besoldung bereits ein Systemwechsel vollzogen worden. Das gleiche gilt auch für die Hochschulfinanzierung im Zusammenhang mit Globalhaushalten und Zielvereinbarungen sowie der Exzellenzinitiative, da in beiden Fällen Leistungen honoriert und Wettbewerb initiiert werden (leistungsorientierte Mittelvergabe).

c. Schließlich ist in jüngster Zeit durch die Einführung von Studiengebühren bzw. Studienbeiträgen in mehreren Bundesländern auch die Finanzierung der Hochschulen neu und flexibler gestaltet worden. Die Hochschulen könnten, wenn die Einkünfte ihnen zur eigenen Verfügung verbleiben, über deutlich größere Gestaltungsmöglichkeiten im Bereich der Lehre verfügen. Es kommt deshalb entscheidend darauf an, den rechtlichen Rahmen so zu definieren, dass diese Gestaltungsfreiheiten nicht durch zulassungs- und kapazitätsrechtliche Vorgaben ausgehöhlt werden.

5. Das geltende Kapazitätsrecht ist aber ein solches Hemmnis und stellt sich deshalb als überholter und systemfremder Anachronismus dar. Es ist kein adäquates Mess- und Steuerungsinstrument (OVG Berlin), d.h. es muss an die neuen Studiengänge und ihre Strukturen angepasst werden.


6. Der bestehende Änderungs- und Modernisierungsbedarf muss im Einklang mit dem geänderten Leitbild der Hochschulpolitik (Wettbewerbsmodell) für die Entwicklung eines neuen und flexibleren Kapazitätsrechts genutzt werden.


III. Die Hochschulen im Korsett der staatlichen Finanzvorgaben


7. Das geltende Kapazitätsrecht vernachlässigt in inakzeptabler Weise die wissenschaftliche Qualität der Lehre und des Studiums. Der Grund liegt darin, dass der Staat die Ausbildungskapazitäten der Hochschule oder von Fächergruppen so "preiswert" wie möglich festlegt, um die maximal erreichbare Zahl von Studienplätzen mit den von ihm bereitzustellenden Finanzmitteln zu schaffen. Auch Curricularnormwert-Bandbreiten oder Durchschnittswerte für Cluster von Studiengänge und Curricularwerte für einzelne Studiengänge, wie sie zur Zeit in der Diskussion sind, werden von dieser Finanzvorgabe der Länder abhängig gemacht und richten sich nicht primär nach den fachlichen Anforderungen.


8. Die Hochschulen verfügen in diesem System über keine nennenswerten Instrumente, um die Qualität der Ausbildung zu verbessern. Solange der Staat in dieser Weise die Ausbildungskapazität der Hochschulen aus finanziellen Restriktionen vorgibt, kann deshalb auch das "Wettbewerbsmodell" nicht realisiert, kann keine wesentliche Verbesserung der Lehrqualität erzielt werden.


9. Es bedarf deshalb einer Entkoppelung der staatlich finanzierten, als Grundversorgung dem Recht auf Bildung genügenden Ausbildungskapazität von der Finanzierung der innerhalb dieser Ausbildungskapazität aus Sicht des Faches notwendigen Qualitätssicherung.


IV. Verfassungsrechtlicher Rahmen für ein neues Kapazitätsrecht


10. Das Verfassungsrecht, insbesondere das Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG, steht einer flexibleren Ausgestaltung der Betreuungsrelationen durch die Hochschulen nicht entgegen. Die hierfür tragenden Gründe sind die Qualitätssicherung und -steigerung durch Wettbewerb auf allen Ebenen, die Vielfalt der Studienangebote und neue Leitbilder wie die leistungsbezogene Mittelvergabe, Förderung von Excellenz, Wettbewerb um Studierende und Lehrende.


11. Es ist Aufgabe und Recht des Gesetzgebers, einen solchen Systemwandel herbeizuführen, der die Interessen der Studierenden und der Hochschullehrer an einer Qualitätsverbesserung gegenüber rein quantitativen Überlegungen bisheriger Art stärker berücksichtigt.


12. Ein solcher Systemwandel darf jedoch das "Recht auf Bildung" nicht aushöhlen. Deshalb muss im Rahmen des Wandels ein Kapazitätsabbau soweit wie möglich vermieden werden. Er führt auch nicht zu einer ersatzlosen Abschaffung des geltenden Kapazitätsrechts, sondern zu einer Modifikation, die den geänderten Rahmenbedingungen gerecht wird.


13. Das Verfahren muss wegen seiner Grundrechtsrelevanz in den Grundzügen parlamentarisch gesteuert und verantwortet sein.


14. Ein Systemwechsel in Gestalt einer Wettbewerb ermöglichenden und der Verbesserung der Studienbedingungen dienenden Änderung des Kapazitätsrechts ist verfassungsrechtlich zulässig.


V. Eckwerte eines neuen Kapazitätsrechts und Umsetzungsvorschlag


15. Der Vorschlag für ein neues Kapazitätsrecht trägt dem Umstand Rechnung, dass im neuen Leitbild der Hochschulpolitik (Wettbewerbsmodell) zwischen zwei Ebenen des Wettbewerbs zu unterscheiden ist:

a. Die erste Ebene bezieht sich auf den föderalen Wettbewerb, also den Wettbewerb zwischen den Bundesländern. Hier geht es um den Wettbewerb zwischen verschiedenen Modellen der Hochschulgesetzgebung (in concreto von der Beibehaltung des bisherigen CNW-Modells über ein Bandbreitenmodell bis hin zu einer reinen Verhandlungslösung) und der Hochschulfinanzierung (Entscheidungen über die Höhe der Finanzzuweisungen an die Hochschulen und für oder gegen Studienbeiträge sowie für deren Verwendung).

b. Die zweite Ebene bezieht sich auf den Wettbewerb zwischen den Hochschulen und zwar auf Landes- und auf Bundesebene. Dieser Wettbewerb ist durch den Wettbewerb der ersten Ebene maßgeblich determiniert: je mehr Autonomie die Länder den Hochschulen einräumen, desto stärker können sie durch eigene Entscheidungen und Gestaltungen an diesem Wettbewerb teilnehmen. Das gleiche gilt für die Finanzausstattung.

16. Um einen Wettbewerb auf beiden Ebenen zu ermöglichen, müssen einige wenige gemeinsame Rahmenbedingungen akzeptiert bzw. geschaffen werden. Dazu gehören vor allen die Garantie einer Mindestkapazität von Studienplätzen in den einzelnen Fachrichtungen oder Fächergruppen sowie ein gemeinsames Bekenntnis zum Wettbewerbsmodell mit der notwendigen Folge der Abkehr von einem einheitlichen Kapazitätsrecht.


17. Für das neue Kapazitätsrecht sollten folgende Grundüberlegungen maßgeblich sein:

a. Die Finanzierung der Aufnahme- und Ausbildungskapazität (im Sinne der Grundversorgung von Ziff. 9) und damit der Grundausstattung für die Lehre zur Sicherung von Mindestqualitätsstandards ist Aufgabe des Staates. Es wird klargestellt und anerkannt, dass die zugrunde liegenden Berechnungsparameter (s. Ziffer 15a) das Äquivalent dafür darstellen, welches Ressourcenvolumen der Staat für die letztlich von ihm festgelegte Studienplatzzahl (für Studiengänge, Fächergruppen oder die gesamte Hochschule) bereit ist, zur Verfügung zu stellen (s. Ziff. 7).

b. Weder für die staatlich garantierten Mindestkapazitäten und -qualität noch oberhalb dieser Grenzen besteht verfassungsrechtlich ein Zwang zur bundeseinheitlichen Kapazitätsberechnung. Unterschiedliche Modelle (z.B. "klassischer" CNW; Bandbreitenmodell (mit Varianten); Vereinbarungsmodell) sind verfassungsrechtlich zulässig.

c. Die qualitativen Anforderungen des Faches, die aus dessen Sicht notwendig sind, um im Wettbewerb zu bestehen, spiegeln diese Berechnungsparameter hingegen nicht (zwingend) wider.

d. Die aus dieser Grundausstattung abzuleitende Zulassungs- und Ausbildungszahlen der einzelnen Hochschule werden in einem Vertrag zwischen Land und Hochschule festgelegt. Die dafür notwendigen Qualitätsstandards werden aufgrund von Empfehlungen des Wissenschaftsrates und unter Berücksichtigung der gestiegenen Anforderungen an die Grundausstattung in den gestuften Studienstrukturen festgelegt. Solange Wissenschaftsratsempfehlungen fehlen, werden in Moratorien jeweils zwischen Land und seinen Hochschulen entsprechende Vereinbarungen auf der Grundlage der bisherigen Aufnahmekapazitäten und den Anforderungen der Studienstrukturreform getroffen.

e. Die Aufnahme von Zulassungszahlen als Anhang zum Haushaltsgesetz ist beim Vereinbarungsmodell ein notwendiges Systemelement, da es ansonsten zu einer erheblichen Rechtsunsicherheit kommt. Bei anderen Modellen ist diese Maßnahme nicht zwingend erforderlich.

f. Sind die aus fachlicher Sicht erforderlichen Qualitätsstandards (s. lit. c, im Zweifel dokumentiert im Akkreditierungsantrag, ansonsten in Studien- und Prüfungsordnung, Studienplan) im Rahmen der Grundausstattung / der festgesetzten Zulassungszahlen nicht realisierbar, hat die Hochschule das Recht zur Sicherung dieser Ausbildungsqualität über den Einsatz von Drittmitteln für die Lehre. Drittmittel sind alle Mittelzuflüsse an die Hochschulen, die nicht als deren "Gegenleistung" für die vereinbarte Aufnahme- und Ausbildungskapazität bestimmt sind, wie z.B. Stiftungen, (staatliche) Leistungsprämien und Studienbeiträge. Sie sind haushaltsrechtlich gesondert auszuweisen.

g. Es handelt sich bei den mit Drittmitteln finanzierten Maßnahmen um keine "unzulässige Niveaupflege". Sie erhöhen deshalb in keinem Fall die Ausbildungskapazität. Die vorhandene Ausbildungskapazität ist "erschöpfend genutzt", wenn die durch Zielvereinbarung und Haushaltsgesetz festgesetzten Studienplätze ausgeschöpft sind.

h. Auf diese Weise können elementare Verbesserungen in Lehre und Studium (z.B. Verkleinerung der Gruppengrößen, Einführung neuer Lehrveranstaltungen) durch Einstellung hauptamtlichen, hoch qualifizierten Personals erreicht und nicht nur Hilfsmaßnahmen (stud. Tutorenprogramme, Sachmittel, Verlängerung von Bibliotheksöffnungszeiten) ergriffen werden.

i. Als notwendige Voraussetzung für das Wettbewerbsmodell erscheint eine gesetzliche Regelung, die die Verwendung von Einnahmen aus Studienbeiträgen für die Verbesserung der Lehre vorschreibt und diese Mittel für Kapazitätsirrelevant erklärt.

18. Die für die Umsetzung erforderlichen Regelungen sind in den Landeshochschulgesetzen zu treffen. Dies ist die Voraussetzung für den föderalen Wettbewerb auf der ersten Ebene. Eine bundesrechtliche Regelung ist nicht zwingend erforderlich.


19. Über die bundesweit erforderlichen Rahmenbedingungen sollte eine Vereinbarung durch Staatsvertrag oder Beschluss der KMK (würde ausreichen) erfolgen.